„Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden.“

Das Online-Magazin Telepolis (Hannover) veröffentlichte am 20.2.2015 als Auszug aus dem Buch meine Kritik an Gerhard Schröders Basta-Dogma, nach dem wir nicht von Dienstleistungen leben können, sondern immer erst mal kräftig Stahl, Beton oder Autos bauen müssen, ehe wir uns weicheren Gütern wie Bildung, Gesundheit oder Schönheit widmen können. Ich liefere eine Reihe von Gegenbeispielen. Doch auch die Telepolis-Gemeinde ist nicht faul und debattiert bereits munter meine Thesen. Die meisten dort sind derzeit anderer Meinung als ich. Hier gehe ich auf einige der Argumente ein.

Die Maslowsche Bedürfnispyramide besage, dass Bedürfnisse nach Essen, Trinken und Behausung zuerst befriedigt würden. Daraus ergebe sich ein Primat der materiellen Güterproduktion. – Ich wende ein: Ein Koch, ein Dönerbräter bewegt sich als Dienstleister auf der gleichen primären Bedürfnisstufe. Die Stufe ist also nicht direkt mit dem Unterschied Industrie/ Dienstleister verknüpft. Außerdem betrachte ich in dem Dogma unsere heutige Gesellschaft, in der die Bedürfnisse nach Essen usw. befriedigt sind. Ich will mit der Kritik ja gerade erreichen, dass sich Diskussion und Begriffe dem aktuellen Stand der gesellschaftlichen Entwicklung anpassen.

  • Ich hätte meinen Marx wohl weder gelesen noch verstanden (meinen z. B. ritos undbit4me). Da stünde doch eindeutig drin, dass Mehrwert nur in der materiellen Produktion entstehe. – Stimmt aber nicht, ätsch! Marx geht in dem von mir zitierten Beispiel (siehe Fußnoten) ausdrücklich auf einen Koch in einem Hotel ein. Der ist nach Marx produktiv, erzeugt also Mehrwert, weil seine Arbeit benutzt wird, um ein Kapital zu vermehren. Das gleiche gilt nach Marx für eine Sängerin, die von einem Konzertveranstalter engagiert wird. Es gilt jedoch nicht für Köche, Sänger oder Diener, die ein Reicher für sein Privatvergnügen beschäftigt – so weit Marx. Zu einem ähnlichen Ergebnis, nur über den Markt argumentiert, kommt Volker Birk im TP-Forum.
  • Mehrere haben natürlich zur Damenbluse gegriffen, um zu zeigen, dass mein Kreislauf der Dienstleistungen ohne ein Industrieprodukt wie die Damenbluse nicht funktioniere. – Nun, ich brauche die Damenblusenverkäuferin ja nur aus dem Zyklus herauszunehmen, dann funktioniert er auch. Dass viele Dienstleistungen mit Geräten, Gebäuden usw. verknüpft sind, habe ich erwähnt. Umgekehrt sind auch fast alle Industrieprodukte mit Dienstleistungen verknüpft. Die beiden Wirtschaftsweisen durchdringen einander ständig. Daraus lässt sich weder ein Primat der Industrie noch eins der Dienstleistung ableiten. Die Damenbluse ist ein ziemlich interessantes Beispiel. Ihre Wertschöpfung beruht nämlich zum geringsten Teil auf ihrem Materialwert. Was die Bluse (hier ist eine modische, teure Bluse für 100 € gemeint, bei der die Händlerin eine Marge von 50 € hat) wertvoll macht, sind Leistungen wie eine Marktforschungsstudie, ein modisches Design, ein Marketingkonzept, eine Werbemaßnahme, ihre Präsentation im Schaufenster und schließlich die individuelle Beratung durch die Händlerin – also ein ganzer Strauß von Dienstleistungen.
  • Schröders Satz beziehe sich auf den Export, und wir könnten nun mal praktisch nur Industrieprodukte exportieren. – Mein grundsätzlicher Einwand füllt eine weitere Dogmenkritik zum Thema „Eine starke Wirtschaft zeigt sich an ihrer Exportstärke„. Es ist eben falsch anzunehmen, dass wir nur vom Export leben. Wir leben zum größten Teil davon, dass wir die Güter und Leistungen erzeugen, die wir selbst verbrauchen. Nur weil wir ein paar Dinge importieren müssen, müssen wir andere Dinge exportieren. Zudem spielen Staatsgrenzen für die Organisation der Wirtschaft praktisch kaum noch eine Rolle. Es ist insofern weitgehend zufällig und irrelevant, welche Teile der Wirtschaft als Binnenmarkt, welche als Import und welche als Export gelten. Alles das kann innerhalb des gleichen Konzerns stattfinden.
  • Manche bestreiten, dass Dienstleister Werte schaffen, weil das, was sie schaffen, nicht so beständig sei wie z. B. ein Haus. –  Das lässt sich bestreiten. Der Designer, der das Coca-Cola-Logo schuf, hat einen Wert von großer Beständigkeit geschaffen, während der Produzent einer Blisterverpackung etwas geschaffen hat, das schon in die erste Stunde nach dem Kauf des Produkts nicht überlebte. Dienstleistungen können also sehr langlebig sein. Auch die von der Friseurin geschaffene Frisur hält länger als viele stoffliche Produkte, z. B. die Werbeprospekte in einer Zeitung. Vor allem aber befriedigt sie ein wirkliches Bedürfnis, während die Prospekte nur lästig sind. Kreative Leistungen wie Filme, Romane, Musikstücke, Designs, Titel können äußerst beständig sein.
  • Massenproduktion sei nur bei Industrieprodukten möglich, nicht bei Dienstleistungen; demzufolge seien auch nur mit Industrieprodukten große Gewinne zu erzielen. – Da ist zwar etwas dran, aber schlüssig ist der Einwand letztlich nicht. Wenn ich Gegenbeispiele benenne wie Standardsoftware (Windows) oder Hollywood-Filme, wird der Einwand kommen, inwieweit so etwas noch Dienstleistungen seien. Standardsoftware wird praktisch in einem industriellen Prozess angefertigt; viele Filme, vor allem Serien, wahrscheinlich auch. Es ist schwer, hier zwischen Industrieproduktion und Dienstleistung zu unterscheiden – ähnlich wie bei der Damenbluse. Zugleich gibt es sehr hochwertige, individuelle Dienstleistungen wie Steuerberatung, Rechtsberatung, Vermögensberatung, mit denen hohe Gewinne erzielt werden.
  • Agenor weist darauf hin, dass der Satz schon in den 1990er Jahren von (meinem speziellen Freund) Hans-Olaf Henkel verbreitet wurde. Es ist also kein Wunder, dass er mich aufregt. Ich glaube, dieser Henkel hat noch keinen Satz gesagt, der mich nicht aufgeregt hätte.
  • Interessanter Hinweis von bgebge auf den Fetisch Geld.
  • Interessante Betrachtung von McGyver777 über die historische Tradition der Missachtung von Dienstleistern.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

2 Gedanken zu „„Wir können nicht davon leben, uns gegenseitig die Haare zu schneiden.““

  1. Zwar google ich meinen Heise-Nick nur ca. ein Mal alle paar Jahre, aber genau so fand ich diesen sehr lesenswerten Blog-Artikel, und wollte mich dazu auch einfach mal für die freundliche Verlinkung auf meinen Telepolis-Forenbeitrag vom 21. Februar bedanken.

    Beste Grüße, alles Gute,
    Mc

    1. Das ist mal ein gut geschriebener Post, veilen Dank. Muss man sich nochmal in Ruhe durchlesen. Generell finde ich diesen Blog leicht zugaenglich.

Schreibe einen Kommentar zu Rezthu Antworten abbrechen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.