Das Böse im Auge

Das erste Foto hat mir schon gereicht: eine Schnellstraße, zwei quer stehende, ausgebrannte Autos, aufgerissene Türen. Auf der Fahrbahn liegen, schemenhaft zu sehen, die Leichen der beiden Fahrer. Die Hamas ist im Zentrum des Bösen angekommen. Muss ich irgendwas revidieren? Ich glaube nicht, denn als Pazifist und Friedenskämpfer habe ich diese Truppe und Mörderbande auch vorher schon nicht ausstehen können oder genauer: als feindliche Kraft erkannt.

Ich erlebe in meinem Kopfkino die letzten Sekunden im Leben der beiden israelischen Autofahrer mit. Die letzten Sekunden im Leben einer Frau, die von dem Musikfestival in der Negev-Wüste kam und vergeblich vor den Mördern weglief. Die letzte Stunde des Bürgermeisters Ofir Libstein, der sich für eine friedliche Zusammenarbeit mit den palästinensichen Nachbarn eingesetzt hatte und bei der Verteidigung seiner Heimatregion Sha´ar HaNegev gegen eine Mörderbande erschossen wurde (Tagesschau Baden-Württemberg 8.10.2023).

Ich erlebe auch die Wut und den Rachedurst der israelischen Soldatinnen und -daten mit, die an der Grenze des Gazastreifens im Sand stehen und auf den Einmarschbefehl warten. Mit ihnen spüre ich, wie ich dem Volk dort den Strom abschneiden will, damit alle ihre Handys tot sind; wie ich dieses Volk rütteln und schütteln will, bis es dort keine Hamas-Truppe mehr gibt; wie ich sie von Lebensmitteln abschneiden will, bis sie alle Geiseln herausgerückt haben. Und erschrecke im nächsten Moment über die Ähnlichkeit, die diese Gewaltphantasien mit dem größten Kriegsverbrechen der deutschen Wehrmacht haben, der zweieinhalbjährigen Belagerung Leningrads ab Ende 1941.

Das Böse ist auch in meinem eigenen Kopf angekommen. Das Böse ist keine geheimnisvolle Größe, die den Mord als Werkzeug benutzt. Der Mord ist kein Werkzeug des Bösen, er ist das Böse. Meist nimmt er die Gestalt von Rachedurst an. Rachedurst ist der Wunsch, einen Mord zu verdoppeln; der Wunsch, einen Mord, dessen Opfer man war, mit einem zweiten Mord zu paaren, dessen Täter man ist. Niemand, der sich in der Schleife des Bösen gefangen hat, glaubt wirklich, dass der zweite Mord eine Gerechtigkeit herstellen oder das Töten beenden wird. Das sind nur verlogene Sprüche.  Jeder Täter, jede Täterin spürt genau das Böse der eigenen Tat. Doch in dem Moment geht es nur um eins: die erlebte Ohnmacht in eine erlebte Macht zu verwandeln. Man könnte auch einen Baum pflanzen, um seine Wirkmacht zu sehen; doch das dauert zu lang und das Ergebnis ist ungewiss. Ein Mord garantiert anhaltende Wirkung nach Sekunden, und als Draufgabe den Blick aus hunderttausend Augen. Das ist der obszöne Charme der Gewalt.

Ist das Böse in uns? Nein. In uns ist die Liebe zu den anderen. In uns ist der Wunsch, andere Menschen zu umarmen. Das Böse ist über uns, um uns, unter uns. Das Böse ist im Egoshooter. Es ist ein Manipulationsprogramm der Gewaltindustrie.

Ist das Wegsehen ein Problem? Nein. Das Hinsehen ist das Problem.

(Ich habe diesen Text Mitte Oktober 2023 geschrieben und etwa zehn Tage gezögert, ihn zu veröffentlichen.)

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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