Wald

Gibt es einen Wachstumszwang “im Kapitalismus”?

Die Publi­zistin Annette Schlemm sagte in einer Diskus­sion in ihrem »Philo­so­phen­stüb­chen«: Der Kapita­lismus habe vierzig Jahre Zeit gehabt, einen Weg aus dem Ressourcen- und Klima­di­lemma zu finden, und habe ihn nicht gefunden. Ist das nicht merkwürdig formu­liert? Das klingt so, als wäre »der Kapita­lismus« eine Regie­rung, die wir gewählt haben, oder ein Dienst­leister, den wir beauf­tragt haben und bezahlen. Das klingt so, als gäbe es einen Hohen Rat des Kapitals, der regel­mäßig über diese Frage berät und entscheidet. Den gibt es aber nicht. Dazu kommen weitere Einwände: Unter­nehmen und ganze Branchen können auch schrumpfen, ohne zusam­men­zu­bre­chen. Die biolo­gi­sche Metapher ist falsch. Selbst Inves­toren können mit Verlusten leben und haben zuweilen andere Motive als den platten Gewinn. (Foto: Korff)

Statt eines Hohen Rats des Kapitals gibt es, soweit ich sehe, eine Vielfalt unter­schiedlicher Konzerne und Akteure mit unter­schied­li­chen Inter­essen und Strate­gien. Die einen wollen Öl, Kohle, Strom, Autos oder Zement verkaufen, andere wollen Brot, Versi­che­rungen, Software, Telefon­ge­spräche, Heilkunst, Müllma­nage­ment oder Windräder verkaufen. Gemeinsam sind den meisten davon zwei Organi­sa­ti­ons­prin­zi­pien: Sie setzen Kapital, Arbeits­kräfte und Ideen ein, um ihr Kapital zu vergrö­ßern, und sie sind hierar­chisch struk­tu­riert.

Dass Unter­nehmen ihr Kapital vergrö­ßern wollen, ist das ein Wachs­tums­zwang? Müssen sie wachsen, um nicht zu weichen? Nein, denn sie halten es offenbar zuweilen auch aus, wenn sie schrumpfen. In Krisen­si­tua­tionen können Konzerne schrumpfen, ohne zusam­men­zu­bre­chen, Aktien­kurse können sinken, ohne dass Panik ausbricht. Ganze Branchen können über Jahre hinweg schrumpfen: So wurde der westdeut­sche Stein­koh­le­bergbau ab 1966 über rund 50 Jahre hinweg planmäßig abgewi­ckelt, der zustän­dige Konzern, die Ruhrkohle AG, wurde, staat­lich reguliert, immer kleiner. Wobei es in diesem Fall aller­dings eher umgekehrt war: Der Staat hat eine deutsche Branche, die auf dem Weltmarkt keine Chance mehr hatte, aber quasi-religiöse Vereh­rung genoss, jahrzehn­te­lang aufrecht erhalten. Unter solchen Sonder­be­din­gungen jeden­falls funktio­niert das Schrumpfen im Kapita­lismus. Das Spiel wieder­holt sich jetzt beim Braun­koh­le­bergbau und den Kohle­kraft­werken. Die Landwirt­schaft in der EU wird unter ähnli­chen Prämissen verwaltet.

Zweifellos möchte jedes Unter­nehmen seine Umsätze und Gewinne steigern. Deshalb scheint es passender, von einem Wachs­tums­trieb zu sprechen als von einem Wachs­tums­zwang, einem Trieb, der mit dem Fortpflan­zungs­trieb vergleichbar ist. Wachstum an sich ist bereits eine biolo­gi­sche Metapher. Auch der angeb­liche Wachs­tums­zwang wird gerne aus der Biologie abgeleitet; zu Unrecht, denn in der Biologie gibt es gar keinen Wachs­tums­zwang. Pflanzen und Pilze z. B. müssen nicht wachsen, sie können unter ungüns­tigen Bedin­gungen auch stagnieren oder schrumpfen, ohne deshalb abzusterben. Tiere müssen ihre Popula­tionen nicht vergrö­ßern, sie können sie auch verklei­nern, ohne deshalb sofort von konkur­rie­renden Arten verdrängt zu werden. Die Mensch­heit wird, wenn sie es um 2045 hoffent­lich geschafft hat, nicht mehr weiter zu wachsen, voraus­sicht­lich noch viele Jahrhun­derte lang mit sinkenden Zahlen gedeihen, ohne auszu­sterben. Das gilt auch für einzelne Völker ab einer gewissen Mindest­größe, etwa für die Deutschen – dies den Deutsch­na­tio­nalen ins Stamm­buch.

Aber die Inves­toren! Wer sein Geld inves­tiert, will eine Rendite, also mehr Geld. Als ich einmal ein paar Aktien besaß und diese in ihrem Wert unter den Einkaufs­preis gesunken waren, zeigte mir die Bilanz an: Mein Invest­ment war „im Minus“. Als ich sie verkaufte, war ich wieder mit 100 € „im Plus“. Heißt das, für Inves­toren gibt es einen Wachs­tums­zwang? Nein, denn sie überleben es in der Regel, wenn sie Verluste machen, zumin­dest eine gute Weile. Auch fragt sich, ob der starke Wachs­tums­drang der Invest­ments wirklich bedeutet, dass auch die Umsätze der Unter­nehmen wachsen „müssen“. Die Antwort ist Nein, aus zwei Gründen:  Inves­toren können diver­si­fi­zieren und Verluste in Branche A mit Gewinnen in Branche B ausglei­chen. So spiegelt sich z. B. der Wandel vom Indus­trie- zum Diens­t­­leis­tungs-Kapita­lismus in den Aktien­port­fo­lios der Inves­toren wider. Dieser Wandel verläuft mal organisch, mal disruptiv, aber weitge­hend ohne chaoti­sche Zusam­men­brüche. Auch die Industrie­konzerne, aus denen Inves­ti­tionen abfließen und die ihr Personal abbauen, brechen nicht zusammen (leider, möchte ich manchen nachsagen). Der andere Grund ist die viel beschriene Abkopp­lung des „bösen“ Finanz­markts von der „guten“ Realwirt­schaft. Aktienspeku­lationen funktio­nieren auch ohne steigende Umsätze der Unter­nehmen, bloß durch die Hoffnung und die Wetten der Inves­toren auf neu erschlos­sene Wirtschafts­felder. Das ist ein olympi­scher Sport: Dabei sein ist alles. Wenn neuer Technik­schaum geschlagen wird wie jetzt die Künst­liche Intel­li­genz, dann wollen viele nachher ihren Kindern sagen können: Ich bin dabei gewesen. Ob sie dabei reich geworden sind, ist weniger wichtig.

Wer aber versaut das Wasser, frisst die Rohstoffe, befeuert das Treib­haus? Die Broker oder die Zement­öfen? Die Trans­ak­tionen oder die Contai­ner­schiffe? Ja, auch wachsender Daten­ver­kehr verbraucht immer mehr Strom, ja, die vielen Handys brauchen Coltan – aber was ist ein Handy gegen eine Tonne Beton? Was ist eine Gugel­suche gegen eine Stadt­fahrt im Suuf? Könnte es sein, dass das Geschrei über die neuen Sünden der Infor­ma­ti­ons­technik von den alten und leider immer noch wachsenden Sünden der Stahl‑, Beton- und Chemie­frak­tion ablenken soll? So wie das jahrfünf­te­lange Lamento über Standby-Schal­tungen, die angeb­lich fünf Kraft­werke beschäf­tigten (aktuell nachge­messen hat das nie jemand), davon ablenken sollte, dass die Leute jedes Jahr mehr Auto fuhren, und jedes Jahr mit noch größeren und noch schwe­reren Autos. Kömmt es hier und heute nicht zuerst darauf an, den Peak Car zu erzwingen? Den Punkt, an dem das Gesamt­ge­wicht der deutschen (europäi­schen, nördli­chen) Fahrzeug­flotte endlich anfängt zu sinken? Und den Peak Beton: den Punkt, an dem das Gesamt­ge­wicht des verbauten Betons anfängt zu sinken? Und das Problem des rasant wachsenden Daten­ver­kehrs erst danach anzupa­cken?

Soll das alles heißen, dass der Kapita­lismus uns ewig erhalten bleiben wird? Nein, keines­wegs. 2017 habe ich hier begründet, warum es auch ohne Kapita­lismus geht, und wahrschein­lich besser als mit.

Inter­es­sante Artikel zur Frage:

  • Muss die Wirtschaft wirklich immer wachsen? Quarks vom 14.9.2020
  • Sozio­loge Steffen Mau: „Klima­po­litik, das ist ein Klassen­kampf im Werden“. der Freitag 432023
  • Rebecca Solnit: Milli­ar­däre sind die Giganten des Klima­wan­dels – wir sind die Bienen. The Guardian; der Freitag 21.11.2023
  • Damian Carri­ngton: Der CO₂-Fußab­druck der reichsten zehn Prozent der Weltbe­völ­ke­rung ist bis zu 40 Mal höher ist als der von armen Menschen. Das zeigt: Pauschale Steuern auf klima­schä­di­gendes Verhalten sind unsinnig. The Guardian; der Freitag 22.11.2023

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

4 Gedanken zu „Gibt es einen Wachstumszwang “im Kapitalismus”?“

  1. Entgegen Deiner Auffas­sung halte ich es für sehr wahrschein­lich, dass der Kapita­lismus (damit meine ich „Kapita­lismus“ als herrschende Wirtschafts­weise) auf Wachstum zwingend angewiesen ist. Natür­lich gilt das nicht für einzelne Kapita­listen, Firmen, Branchen, die inner­halb des Markt­ge­sche­hens ständig Umbrü­chen ausge­setzt sind. Sie können schrumpfen, wachsen, unter­gehen oder Aufer­ste­hung feiern. Eines ist aber immer gleich. Irgendwo hin muss der erzielte Profit Gewinn verspre­chend reinves­tiert werden. Dabei ist es egal, ob sich die Erwei­te­rungs­mög­lich­keiten bei Gewürz­gurken, Atomstrom, Schön­heits­ope­ra­tionen oder Panzer­fäusten ergeben. Stockt die Möglich­keit, mit dem erzielten Profit, in welchem Winkel der Erde auch immer, neuen Profit zu erzielen, nicht nur vorüber­ge­hend, sondern dauer­haft, dürfte sich die Krise bis zum globalen System­kol­laps verstärken. Wollen wir die Klima­ka­ta­strophe noch irgendwie begrenzen, was m. E. nur bei einer kräftigen Reduzie­rung von Produk­tion und Konsum im globalen Norden möglich wäre, geht dies wohl nur mit einer ökono­mi­schen Logik jenseits des Kapita­lismus, ganz zu Schweigen von der Notwen­dig­keit, soziale Ausgleiche im globalen Maßstab zu schaffen.

    1. Du schreibst: “Irgend­wohin muss der erzielte Profit Gewinn verspre­chend reinves­tiert werden.” Das bezweifle ich. Das muss nicht so sein. Ein Unter­nehmen muss keinen Gewinn machen. Es kann sich darauf beschränken, gerade so viel Umsatz zu machen, dass die Löhne und Gehälter der Beschäf­tigten und die techni­schen Kosten refinan­ziert werden. Wenn es Gewinne macht, kann es die auch als Dividende an Aktio­näre ausschütten oder als Gewinn­be­tei­li­gung an Beschäf­tigte oder Genossen (einer Genos­sen­schaft). Wenn es Gewinne inves­tiert, kann es die in die Verbes­se­rung einiger Leistungen inves­tieren und die weniger guten Leistungen einstellen, so dass unterm Strich nichts wächst. In vielen Artikeln zum Thema, auch bei Quarks, werden Wachstum und Innova­tion gleich gesetzt. Das ist aber überhaupt nicht schlüssig. Wir können Innova­tionen nutzen, um die Arbeits­zeiten zu verkürzen und in kürzerer Zeit die gleiche Menge Leistungen und Produkte wie vorher zu produ­zieren. Dann haben wir Innova­tion ohne Wachstum.

      1. Wir haben wohl unter­schied­liche Grund­an­nahmen, was im Kapita­lismus möglich ist und was nicht, unter Umständen aber auch eine unter­schied­liche Begriffs­de­fi­ni­tion, was wir uns unter Kapita­lismus vorstellen.

        Die Lebens­mit­tel­chemie bringt es vielleicht fertig Ochsen­schwanz­suppe ohne Ochsen­schwanz zu kreieren, kann es aber Kapita­lismus ohne Kapital­ak­ku­mu­la­tion geben? M. E. nicht, denn sonst wäre es kein Kapita­lismus mehr, sondern etwas anderes.

        Für den zugrun­de­lie­genden Disput scheint mir folgende Defini­tion von Karl Hermann Tjaden aus einem Lexikon­ein­trag von 1990 ( Ausfüh­rungen zum Mehrwert lasse ich an diese Stelle weg, um die Sache nicht noch kompli­zierter zu machen) zur Kennzeich­nung der von mir vertre­tenen Position geeignet zu sein:

        “Die kapita­lis­ti­sche Produk­ti­ons­weise verei­nigt die Arbeits­kraft lohnab­hän­giger Arbeits­kräfte und die Produk­ti­ons­mittel kapita­lis­ti­scher Unter­neh­mungen als Verkör­pe­rungen privaten Vermö­gens mit dem Ziel, ein Mehrpro­dukt zu erzeugen, das so weit wie möglich in zusätz­li­ches Vermögen umgewan­delt wir, wobei der ursprüng­liche Vermö­gens­be­stand erhalten und erneuert wird.”

        Natür­lich kann es und konkret sehen wir es z. B. bei den von Umwelt­be­wegten gegrün­deten Energie­ge­nos­sen­schaften, nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche oder teilweise nicht­ka­pi­ta­lis­ti­sche Betriebs­weisen als Insel­exis­tenzen inner­halb eines gesell­schaft­li­chen Systems, das insge­samt betrachtet, auf einer kapita­lis­ti­schen Wirtschafts­weise beruht, geben. Manchmal klappt das (z. B. „EWS Schönau“), manchmal nicht (z. B. „Neue Heimat“). Eine Gesell­schaft aber, deren vorherr­schende Wirtschafts­weise nicht mehr von dem Streben nach privaten Profit bestimmt, sondern gemein­wohl­ori­en­tiert ausge­richtet ist, was hätte die noch mit Kapita­lismus zu tun? Da wäre doch das Tor zu einer neuen Gesell­schaft bereits aufge­stoßen und ein Kampf gewonnen, der erst noch zu führen ist.

        1. Nach Tjaden haben kapita­lis­ti­sche Unter­nehmer in der Regel das “Ziel, ein Mehrpro­dukt zu erzeugen, das so weit wie möglich in zusätz­li­ches Vermögen umgewan­delt wird”. Das lasse ich so stehen. Das begründet in der Tat einen Wachs­tums­drang, bezogen aufs Vermögen. Doch schon Tjaden schränkt ihn ein: “so weit wie möglich”. Wenn es nicht möglich ist, das Vermögen zu vergrö­ßern, geht die Welt des Kapita­listen trotzdem nicht unter. Insofern scheint es keinen Wachs­tums­zwang zu geben, auch nicht bei Tjaden. Anders sieht es wohl beim Mehrpro­dukt aus. Wenn die Produkte und Leistungen der Unter­neh­mens, zumin­dest auf längere Sicht, nicht mehr wert sind als der Aufwand, den man zu ihrer Erstel­lung getrieben hat, dürfte sich diese Wirtschafts­form bald totlaufen. Aber es reicht für Kapita­lismus wahrschein­lich aus, wenn dieses Mehrpro­dukt gerade so groß ist, um ein paar Verbes­se­rungen im Betriebs­ab­lauf und Optimie­rungen der Produkte vorzu­fi­nan­zieren. Wenn stets an anderer Stelle Aufwand einge­spart wird, ergibt das eine Art Fließ­gleich­ge­wicht mit Nahe-Null-Wachstum.

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