Eine Herrschaft der Dummen gibt es nicht

Seit dem späten 19. Jahrhun­dert warnen Sozial­dar­wi­nisten in Deutsch­land vor einer zuneh­menden Verdum­mung der Menschen und einer Macht­über­nahme der Dummen. Grund sei die höhere Vermeh­rungs­rate der Dummen und die niedri­gere der Intel­li­genten. In der Regel paarte sich diese kultur­pes­si­mis­ti­sche Klage mit der Klage über die Demokratie: Die Demokratie führe zu einer Herrschaft der Dummen (Ochlok­ratie) und gefährde deshalb den Fortbe­stand der Kultur. Sie müsse durch eine Oligar­chie (Herrschaft der Wenigen) oder Aristo­kratie (Herrschaft der Besten) ersetzt werden, sagt dieje­nige politi­sche Strömung, die um 1800 aus der Recht­fer­ti­gung der Vorrechte des Adels entstanden ist. Diese beiden Theorien sind durch den Verlauf der Geschichte der letzten 150 Jahre hinrei­chend wider­legt, um als falsch gelten zu können.

Statt zu verdummen, sind die Menschen in den hoch entwi­ckelten Ländern, soweit Intel­li­genz­tests das ermit­teln können, konti­nu­ier­lich intel­li­genter geworden. Statt die Kultur zu zerstören, hat der weitere Ausbau von Demokratie und Parti­zi­pa­tion die Kultur berei­chert. Das gilt nicht zuletzt für jenen von Konser­va­tiven beson­ders heftig beklagten Schub, der sich mit der 68er Bewegung und Willy Brandts Parole »Mehr Demokratie wagen« verbindet. Die Frauen‑, Öko- und Friedens­be­we­gung der 1970er und 1980er Jahre haben das Terrain der Demokratie weiter vergrö­ßert, viele tradi­tio­nelle Hierar­chien erschüt­tert oder aufge­löst und zugleich eine neue Ebene der Verant­wor­tung, der Koope­ra­tion und Achtsam­keit aufge­baut, die zuvor kaum bekannt war. Soziale Medien und koope­ra­tive Inter­net­pro­jekte der 2000er Jahre haben die Effizienz dieser Diskurse weiter verstärkt und Vorbilder für neue Organi­sa­ti­ons­formen geschaffen.

An dieser Stelle wider­legte sich die konser­va­tive Demokratie- und Medien­kritik selbst: Da ihr der Kultur­ver­lust, also die Verro­hung der Gesell­schaft, wie sie doch durch eine Herrschaft der Dummen eigent­lich hätte aufkommen müssen, abhanden kam, beklagte sie nun eine angeb­lich übermä­ßige Morali­sie­rung der Gesell­schaft – was ziemlich genau das Gegen­teil von Kultur­ver­lust ist. (Diese Facette ist auch nicht neu, sie hängt schon seit Nietz­sche in der Galerie der Weltbilder.) Und wenn jemand in den letzten Jahren versucht hat, Tendenzen der Verro­hung zu etablieren, dann waren das ausge­rechnet konser­va­tive Rüpel wie Berlus­coni, Salvini, Haider, Strache, Blocher, Gauland, Höcke, Orbán, Kaczynski, Bolso­naro und der Rausschmeißer.

Warum ist die von Sozial­dar­wi­nisten beschriene Verdum­mung der Menschen speziell in Europa ausge­blieben? Wo stecken die Denkfehler dieser Theorie? Zunächst in der Annahme, dass Intel­li­genz monokausal genetisch bedingt sei. Das ist sie nun einmal nicht. Bessere Versor­gung, bessere Betreuung, bessere Bildung der Kinder lässt offen­sicht­lich das Intel­li­genz­ni­veau, soweit es von IQ-Tests erfasst wird, ansteigen. Emile Zola hat das schon in den 1870er Jahren gepre­digt. Er hatte Recht. Konser­va­tive Elite­jünger wie Thilo Sarrazin wollten einfach nur ihren Irrglauben nicht loslassen und schüt­teten ihren alten, längst umgekippten Fusel immer wieder in neue Schläuche. Mal erwar­teten sie den Unter­gang von polni­schen Bergar­bei­tern mit primi­tiv­ka­tho­li­schem Marien­glauben, mal von koran­gläu­bigen Kopftuch­trägerinnen. Deutsch­land schaffte sich damals nicht ab, es schafft sich heute nicht ab.

Das Klischee von der kinder­rei­chen Unter­schicht und den kinder­armen Akade­mi­ke­rinnen klingt auf den ersten Blick plausibel. Es gab und gibt ja tatsäch­lich viele kinder­reiche Unter­schicht­familien. Warum hat das nicht zu einer grassie­renden Verdum­mung geführt? Unter anderem deshalb, weil die Kinder von »Dummen« nicht schick­sal­haft dumm sind. Auch der geneti­sche Anteil der weiter­ge­ge­benen Intel­li­genz variiert stark und wird immer wieder neu kombi­niert. An dieser Stelle haben sich die Sozial­dar­wi­nisten von Anfang an frivol über geneti­sche Fakten hinweg­ge­setzt, die schon seit Mendel bekannt sind. Goebbels hat einmal, auf die Wider­sprüche in den Juden­de­fi­ni­tionen der Nazis angespro­chen, gesagt: »Wer Jude ist, bestimme ich.« Auf ähnliche Weise »bestimmen« Sarrazin und Konsorten kraft eigener Willkür, wer dumm ist. Unter den Kindern jener Unter­schicht­fa­mi­lien sind also auch stets etliche durch­schnitt­lich oder sogar überdurch­schnitt­lich intel­li­gente, die entspre­chend geför­dert werden können, und wenn das gelingt, steigen sie sozial auf. Ihre Kinder wachsen dann nicht mehr in der Unter­schicht auf. Dazu kommt, dass viele Mitglieder der Unter­schicht überhaupt keine Familien gründen, sich also gar nicht fortpflanzen, oder dass ihre Familien schei­tern und ihre Kinder sterben, bevor sie sich selbst fortpflanzen können. Im frühen 20. Jahrhun­dert war das noch weit verbreitet, doch die Gesund­heits-versor­gung von Unterschicht­kindern ist immer noch deutlich schlechter als die von Mittel­schicht­kin­dern, ihre Überle­bens- und Fort­pflanzungs­chancen sind also geringer. Jene Eltern, die es schaffen, ihre Kinder großzu­ziehen, dürften in der Regel weniger dumm sein, als Elite­jünger vermuten, denn es braucht aller­hand Intel­li­genz, um eine Familie erfolg­reich durch die Fährnisse des Kapita­lismus zu steuern. Dagegen werden die wirklich Dummen in der Unter­schicht eher unter denen zu finden sein, die keine Familien gründen.

Und auch die Annahmen von „Man-wird-ja-wohl-noch-die-Wahrheit-sagen-dürfen“-Sarrazin über die Mittel- und Oberschicht stimmen nicht. Zumin­dest die Männer dieser Schichten haben dann, wenn sie erfolg­reich sind, erheb­lich bessere Chancen, sich fortzu­pflanzen[1] – in der Regel mit Hilfe mehrerer Frauen, die keines­wegs alle Akade­mi­ke­rinnen sein müssen –, mehr Chancen als Männer, die weniger erfolg­reich sind. Diese Väter verbreiten also, sei es über ihre Gene, sei es über ihr väter­li­ches Vorbild, sei es über gezielte Förde­rung und gezielten Drill, genau die Eigen­schaften, die tradi­tio­nell für Führungs­po­si­tionen in der Gesell­schaft quali­fi­zieren. Ob dazu ein überdurch­schnitt­li­cher IQ gehört, sei hier dahin­ge­stellt.


[1] Darum haben erfolg­reiche Männer bei der Famili­en­pla­nung die Nase vorn. stern​.de 5.9.2016, abgerufen 20.6.2020. Dort geht es vor allem um nicht-indus­tri­elle Gesell­schaften. – 31 % der Väter von drei und mehr Kindern haben eine höhere Bildung, nur 21 % eine niedrige. Bei den Müttern sind es 19,4 und 27 %. Gerne übersehen: 73 % der Mütter von drei und mehr Kindern haben eine mittlere oder höhere Bildung. M. Bujard u.a.: Drei Kinder und mehr – Familien aus der Mitte der Gesell­schaft. Konrad-Adenauer-Stiftung 2019, S. 20f – Eine Langzeit­studie über die Karrieren von Ärztinnen und Ärzten ergab 2003: Männliche Ärzte mit Karrie­re­lauf­bahn hatten 1,9 Kinder, Ärzte in Spitzen­po­si­tionen sogar 2,6 – im Vergleich zu 1,3 im Gesamt­schnitt der Männer (lt. MPI Demografie 2016). H.-U. Hohner u.a.: Geschlechts­spe­zi­fi­sche Berufs­ver­läufe… Deutsches Ärzte­blatt 2003, abgerufen 20.6.2020


Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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