Der Unfug vom binären Denken

Im WDR-Funkhaus­ge­spräch stritten am 12. November 2020 der Polito­loge Karl-Rudolf Korte, die Jungso­zia­listin Jessica Rosen­thal und die Klima­ak­ti­vistin Ronja Weil über die »Krise der Parteien« und die Frage, ob eine »Demokratie von unten« an ihre Stelle treten kann. Korte sagte in der Debatte einige kluge Dinge, aber als es darum ging, warum manche Konflikte zwischen verschie­denen Gruppen, etwa zwischen Coronabe­sorgten und Coronai­gno­ranten, oft eska­lieren, glitt er in ein Dünkel­dogma ab: Er führte solche Eskala­tionen auf die »binäre Logik« der Computer und das damit einher­ge­hende »binäre Denken« der Inter­net­be­nutzer zurück.

Angeb­lich kennen Computer nur die 0 und die 1, und angeb­lich führt das dazu, dass ich nur noch 0 oder 1 denken kann, wenn ich per Computer etwas lese oder schreibe. Was für ein Unfug! Wenn ich diesen Text am Computer schreibe, stellt mir mein Computer dafür via Tastatur genau 107 verschie­dene Zeichen zur Verfü­gung: ^1234567890ß´ qwert­zu­iopü+ asdfgh­jklöä# <yxcvbnm,.- °!“§$%&/()=?‘ QWERTZUIOPÜ* ASDFGHJKLÖÄ‘ >YXCVBNM;:_ ²³{[]}\@€~| Die kann ich zu einer unend­lich großen Vielfalt an Wörtern, Zahlen und Zeichen­ketten kombi­nieren. Damit habe ich erst die schrift­gebundenen Ausdrucks­formen skizziert. Dazu kommen, wenn ich Fotos, Videos, Grafiken, Musik oder Ton einsetze, diverse weitere Galaxien von Ausdrucks­mög­lich­keiten. Dass irgendwo im Innern der Schalt­kreise des Compu­ters Quadril­lionen von Schal­tern entweder auf ein oder auf aus stehen, um dieses Spektrum zu erzeugen, hat für mich als Benutzer oder Rezipient genau null Bedeu­tung, um nun doch einmal binär zu sprechen. Die These vom binären Denken erscheint mir so schlüssig wie die These: Weil Papier flach ist, kann man in Büchern nur flache Gedanken äußern.

Kortes Diktum ist ein Dünkel­dogma, weil es sugge­riert, dass Menschen, die Bücher lesen statt zu gugeln, anders denken, nicht binär, nicht schwarz-weiß, sondern in Grautönen. Als ob es in der deutschen Geschichte vor 1980 kein Freund-Feind-Denken gegeben hätte. Zum totalen Krieg kann man über ein analoges Mikrofon genauso gut aufrufen wie über ein digitales. Und wenn mein Auge über die Bücher in meinem Regal gleitet und an einem davon hängen bleibt, dann geht es ganz binär weiter: Entweder greife ich es raus oder ich lasse es stecken. Unsere mensch­liche Eigenart, Ja oder Nein sagen zu können, etwas zu tun oder etwas zu unter­lassen, hat also mit der Existenz von Compu­tern null komma fast nix zu tun. Fast nix, weil die Menschen, die die Computer erfunden und entwi­ckelt haben, sich seiner­zeit ja auch mal entschieden haben, es zu tun und es nicht nicht zu tun. Warum sagen wir Ja oder Nein? Vielleicht, weil wir zwei Hände und zwei Füße haben, weil wir Mann oder Frau sind, weil jeder von uns zwei Eltern hat, weil wir jedes Chromosom doppelt haben, weil wir drinnen oder draußen, lebendig oder tot sein können, weil das Leben auf diesem Planeten an vielen Stellen offenbar binär organi­siert ist. Und wenn das der Grund dafür sein sollte, dass auch die Bits im Computer entweder an oder aus sind – dann, ja dann schließt sich der Kreis am Ende doch noch, und aus dem Unfug wird höheren Orts ein Fug.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

2 Gedanken zu „Der Unfug vom binären Denken“

  1. Hallo,

    leider haben Sie nicht verstanden, was sich hinter der Ausge­stal­tung des Terminus “binäres Denken” versteckt. In der Mathe­matik, wenn wir von der Quanten­me­chanik mal absehen, existiert nur ein binär gelagertes Verständnis von Raum, Zeit und Mechanik. Dies trifft auch auf alle Lebens­be­reiche zu, sofern diese nicht von der Quanten­me­chanik abhängig sind und dies sind in unserem alltäg­li­chen Leben halt nunmal nur sehr wenige Dinge.

    Grund­sätz­lich gilt: richtig oder falsch, 0 oder 1 sowie an oder aus!

    Es mag zwar sein, dass der Weg von München über Berlin nach Hamburg auch möglich ist, dennoch ist er mathe­ma­tisch falsch und dies kann rechne­risch nachge­wiesen werden. Diesen Nachweis dann noch in einen Satz zu packen, ist dann die tägliche Aufgabe der Mathe­ma­tiker, Wissen­schaftler und Forscher.

    Das Arbeiten mit Compu­tern, Smart­phones und anderen elektro­ni­schen Geräten zwingt uns immer mehr dazu Situa­tionen und Frage­stel­lungen mit binärer Denkweise zu lösen. Infor­ma­tiker, welche seit der Kindheit ihr “Fable” für die IT bekunden, können diesen Zustand eher nachvoll­ziehen, als der ungeübte Laie.

    Grauzonen existieren höchs­tens in unserer Wunsch­vor­stel­lung und wir versu­chen diese auf ein binäres System anzuwenden. Was daraus folgt sind Umwege, Kompli­ka­tionen oder einfach fehler­hafte Entschei­dungen.

    Ein Beispiel:

    Das Licht im Kühlschrank funktio­niert nicht mehr, jedoch die restliche Funktion des Kühlschrankes ist nicht davon betroffen. Eine mögliche Frage­stel­lung wäre folgende: “Ist mein Kühlschrank defekt?”. Der laien­hafte Denker würde sagen: “Mein Kühlschrank weist einen leichten defekt auf, aber ansonsten funktio­niert er noch.”

    Diese Aussage ist aber falsch, weil die Grund­an­nahme schon nicht korrekt ist, denn der Kühlschrank als einziges Objekt existiert nicht. Der Kühlschrank besteht aus vielen Systemen, welche mitein­ander operieren, um den gewünschten Erfolg zu garan­tieren – die Produkte im Inneren kühlen.

    Die Frage muss also lauten: “Ist das Licht in meinem Kühlschrank defekt?” und hier lautet die Antwort ganz klar: “Ja”.

    Hier existiert keine Grauzone, denn die Lampe kann entweder funkti­ons­fähig oder defekt sein.

    Ganz gleich wo Sie denken, dass ein “wenig falsch” oder ein “wenig richtig” möglich wäre, ist es dennoch nur eine Fehlan­nahme durch eine falsche logische Schluss­fol­ge­rung. Diesen Umstand macht es zum Beispiel so schwierig Zufalls­zahlen in der Mathe­matik zu erzeugen, da die Mathe­matik keinen Zufall kennt.

  2. Der Weg von München über Berlin nach Hamburg ist keines­wegs rechne­risch falsch, weil ich – spontaner Gedanke während der Fahrt – die Gelegen­heit nutze, in Berlin einen Zwischen­stopp zu machen und dort jemanden zu besuchen. Davon weiß der Mathe­ma­tiker aber nichts.
    Es ist lustig, dass Sie ausge­rechnet einen Kühlschrank mit defektem Licht als Beispiel gewählt haben, denn ich besitze seit vielen Jahren einen solchen Kühlschrank. Die prakti­sche Frage für mich lautet: Muss ich ihn reparieren lassen (lohnt sich nicht, zu alt) oder austau­schen oder nicht? Ich musste ihn bislang nicht austau­schen, weil mich das kaputte Licht zu wenig stört. Es handelt sich hier um keine binäre Situa­tion, sondern um eine konti­nu­ier­liche. Würde mich das defekte Licht etwas mehr stören und mein Einkommen ein wenig steigen, könnte der Moment kommen, in dem ich mir einen neuen Kühlschrank leiste. Sie können natür­lich aus jeder konti­nu­ier­li­chen Situa­tion eine binäre machen, indem Sie Schwel­len­werte definieren und immer nur fragen: Wurde der Wert überschritten – ja oder nein? Das ist aber ein recht erbärm­li­ches Konstrukt. Mein Einkommen kann sehr klein, ziemlich klein, eher klein, durch­schnitt­lich, eher groß, ziemlich groß oder sehr groß sein. Das ist keine binäre Skala, sondern eine konti­nu­ier­liche, die auch meine Kaufent­schei­dungen konti­nu­ier­lich und graduell beein­flusst.
    Wenn die Mathe­matik keinen Zufall kennt, ist das schade für die Mathe­matik. Ich kenne ihn jeden­falls. Zum Beispiel war es ein Zufall, dass Sie das Kühlschrank­bei­spiel gewählt haben und ich tatsäch­lich einen Kühlschrank mit defektem Licht besitze.

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