Ein linksliberaler Medientopos ist die Klage über die Spaltung der Gesellschaften, über unversöhnliche, oft moralisch durchwirkte Kontroversen, und oft werden Social Media und die berüchtigten Filterblasen dafür verantwortlich gemacht, die angeblich das Internet erzeugt. Abgesehen davon, dass diese Erklärungsversuche einander krass widersprechen – denn wenn wir wirklich in Filterblasen lebten, dann würden wir mit denen, mit denen wir uns streiten, nie zusammenstoßen –, abgesehen davon sind sie historisch einfach falsch. Die Spaltung geht auf Aktivitäten alter Männer in alten Medien zurück.
Der Journalist Willi Winkler illustrierte das im Februar 2021 in einem Nachruf auf den konservativen usamischen Radiohetzer Rush Limbaugh, der 70jährig verstorben war. 1987, so Winkler, hatte der konservative US-Präsident Ronald Reagan das Ende der »Fairness doctrine« betrieben, in der die usamischen Fernseh- und Radiosender sich verpflichtet hatten, jeden politisch gefärbten Kommentar durch eine Gegenrede auszugleichen. Danach begann, wie Winkler sagt, »die extreme Polarisierung zwischen rechten und linksliberalen Medien«, die aber in Wirklichkeit stets von den rechten Medien ausging. 1992 begannen Limbaugh und andere eine rechtskonservative Hetzkampagne gegen den liberalen US-Präsidenten Bill Clinton, die vor keiner persönlichen Beleidigung und keiner üblen Nachrede zurückschreckte. Limbaugh bezeichnete Hillary Clinton als »Feminazi«, weil sie es gewagt hatte, als First Lady eigene gemäßigt feministische Ansichten zu vertreten, die nicht deckungsgleich waren mit denen ihres Mannes. Clintons Tochter schmähte er in seinem Radiohetzsender als »Hund im Weißen Haus«. Limbaughs schenkelklopfende Zuhörer und Anhänger waren schon damals jene »alten weißen Männer« – genauer: die rechtskonservative Fraktion dieser Männer – , von denen heute so gerne gesprochen wird. Der Feminismus sei erfunden worden, um »hässlichen Tussen« Zugang zu den Medien zu verschaffen; Frauen, die kostenlose Verhütungsmittel forderten, seien Huren; mexikanische Einwanderer seien dabei, die Kontrolle über das Land zu übernehmen; »Umweltirre« seien dabei, die usamische Industrie zu zerstören; Barack Obama wolle die Zwangsbeschneidung aller weißen Männer durchsetzen.
Solche Töne waren auch damals schon alles andere als neu, und vor dem Radio gab es die Zeitung, um sie zu verbreiten. Der deutsche Zentrumspolitiker und Reichskanzler Joseph Wirth (1879–1956) hatte nach dem Mord an Außenminister Walther Rathenau 1922 im deutschen Reichstag seiner Wut freien Lauf gelassen und das Wort geprägt, das passte und immer noch passt: »Der Feind steht rechts.« Rechts und immer wieder rechts standen und stehen die Leute, die die persönliche Verunglimpfung ihrer politischen Gegner mit allen Lügen, die sie sich nur ausdenken können, so lange betreiben, bis sich ein Henker findet, der das Todesurteil der Hetzpropagandisten vollstreckt. Die tiefe Wahrheit von Wirths Ausruf beruht darauf, dass rechts eben nicht nur Leute stehen, die linkem Gedankengut feindlich gesinnt sind, sondern rechts stehen Leute, die die Feindschaft schlechthin verkörpern. Leute wie Limbaugh oder Andrew Breitbart oder Thilo Sarrazin oder Jörg Haider kultivierten und kultivieren das Denken in Freund-Feind-Kategorien, so wie ihr konservativ-faschistischer Vordenker Carl Schmitt (1888–1985) es gelehrt hatte: »Politisches Denken und politischer Instinkt bewähren sich theoretisch und praktisch an der Fähigkeit, Freund und Feind zu unterscheiden.« Woraus schon beim deutschnationalen Hetzer Karl Helfferich (1872–1924) die praktische Konsequenz folgte, seine persönliche Hetzkampagne gegen den Zentrumspolitiker Matthias Erzberger (1875–1921) so weit zu treiben, dass sich 1921 zwei Faschisten fanden, die Erzberger, den Erfinder der Steuerprogression, ermordeten. Das war vor 100 Jahren.
Der Unterschied zwischen Rechts und Links soll verschwunden sein? Mitnichten. Man erkennt ihn immer noch sofort am Stil, in dem gestritten wird. Wenn einer persönliche Beleidigungen und Verleumdungen ausstößt, ist es ein Rechter. Wenn eine über Machtstrukturen redet und keine Namen nennt, ist es eine Linke. Rechte predigen Hass und Gewalt, Linke predigen Empathie, Nächstenliebe, Versöhnung und langen Atem. Wie kommt dieser Unterschied zustande? Linke könnten ja auch zum Krieg gegen Reiche trommeln, Gründe gäbe es genug – aber sie tun es nicht. Wenn jemand zum Krieg gegen Reiche trommelt, z. B. gegen Bill Gates oder George Soros, dann sind es Rechte. Zu Georg Büchners Zeiten war das noch anders: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Wie kommt diese Affinität zwischen konservativem oder faschistischem Denken und persönlichem Hass, persönlicher Kriegstreiberei zustande? Vier Gründe:
- Konservative verteidigen gesellschaftliche Privilegien, also eine alte Machtposition, die sie für bedroht halten. Sie glauben, ihre Privilegien, z. B. die hohen Löhne und fetten Jahreswagen von Automobilarbeitern, seien ihr ererbtes Privateigentum. Bei der Verteidigung entwickeln sie eine Art Territorialverhalten, ähnlich wie ein Hund am Gartenzaun.
- Konservative denken immer personal. Sie glauben, dass besondere Männer die Geschichte machen. Sie glauben nicht an Strukturen. Sie glauben, dass die Ermächtigung oder die Beseitigung eines Mannes oder einer Frau die Geschichte verändert.
- Weil Konservative ihre jeweilige Karriere ihrem ausgelebten Egoismus verdanken und sich immer wieder einander bestätigen, dass der persönliche Erfolg der einzige moralische Maßstab sei, der zählt, sind sie als Lügner, Verleumder, Beleidiger usw. absolut hemmungs- und schamlos. Willi Winkler überschrieb seinen Nachruf auf Limbaugh mit dem Wort »Der Schamlose«.
- Konservative glauben an den Krieg. Der Krieg sei eine menschliche Konstante, und deshalb sei es legitim und natürlich, Krieg zu führen oder zum Krieg zu hetzen. Also zum Töten.
In der Geschichte des Sozialismus gab es ebenfalls kriegerische und sehr gewalttätige Episoden: die Zwangskollektivierung der russischen und ukrainischen Bauern, den Stalin-Terror, Maos Kulturrevolution, Mielkes Gelbes Elend, Ceauşescus finstere Kinderheime, Pol Pots »Killing Fields«. Viele Linke hatten lange Schwierigkeiten damit, diese Episoden offen zu analysieren und zu kritisieren. Doch sie haben es schließlich geschafft. (Wobei es problematisch und unterkomplex ist, dass ich hier Linksliberale, Sozialisten und Kommunisten gerade in einen Topf werfe.) Dass Thilo Sarrazin, Henryk Broder oder Peter Hahne selbstkritisch zu den Morden an Matthias Erzberger und Walter Rathenau Stellung nehmen, darauf können wir lange warten. Vielleicht in den Hunderterjahren 2021 und 2022? Schon dass mir eine solche Hoffnung zu Kopfe steigt, entlarvt mich als linken Träumer. Was also hält uns Linke davon ab, zum Krieg gegen rechte Hetzer und ihre skrupellosen Nutznießer zu blasen? Vier Gründe:
- Linke sind, zumindest seit 1945, Pazifistys. Wir halten Krieg einfach für eine furchtbar schlechte Idee.
- Linke sind Philosophen. Wir haben bei Siddharta, Sokrates, Seneca u.a. gelernt, dass man nur dann ein gutes Leben führt, wenn man es schafft, Unverschämtheiten so gleichmütig hinzunehmen wie Regenschauer. Wir sind doch nicht aus Zucker!
- Linke glauben an Strukturen. Wir glauben nicht, dass es hilft, einen rechten Hetzer zum Schweigen zu bringen, weil die dahinter liegende Struktur sofort einen Nachfolger an seine Stelle treten lassen würde. (Auch der oben genannte Dichter und Revolutionär Georg Büchner rief nicht zum Krieg gegen einen bestimmten Fürsten auf, sondern zum Krieg gegen »Paläste«, also die Struktur. Ich persönlich bin in diesem Punkt anderer Meinung.)
- Linke sind historische Optimisten. Wir glauben daran, dass das Gute am Ende doch siegen wird, dass all die Breitbärte und Broder also letztlich auf verlorenem Posten stehen – und da wir empathiefähig sind, bekommen wir sogar ein bisschen Mitleid mit den tragischen Kanaillen.
Jens Jürgen Korff