Wir wissen es nicht? Doch, oft wissen wir genug, um eingreifen zu können

Pascal Vasselin und Franck Cuveil­lier stellten 2020 im Doku­men­tar­film »La fabrique de l’ignorance« Forschungs­er­geb­nisse der Agnoto­logie vor, die die gezielte Produk­tion von Nicht­wissen, die Verne­be­lung wissen­schaft­li­cher Erkennt­nisse durch Indus­trie­lobbys und konser­va­tive Denkfa­briken unter­sucht. In zahlrei­chen Inter­views mit Psycho­logen, Wissen­schafts­his­to­ri­kern u.a. erleben wir die Kampagne der Chemie­kon­zerne gegen die Entomo­logie (Thema Neoni­ko­tin­oide und Bienen­sterben), die Kampagne der Tabakindu­strie gegen die Krebs­for­schung, die Kampagne von Physi­kern gegen die Klima­for­schung (darunter den »Heidel­berger Appell« von 1992), die Kampagne der Plastik­in­dus­trie und der Toxiko­logen gegen Epide­mio­logen nach, die die Wirkung von endokrinen Disrup­t­oren wie dem Weich­ma­cher Bisphenyl A erforscht haben.

Ein paar Details: Nachdem die tödliche Wirkung neuar­tiger Pesti­zide, der Neoni­ko­tin­oide, auf Bienen erforscht und bekannt geworden war, erschien plötz­lich eine Fülle von Studien über etwaige andere Ursachen des Bienen­ster­bens: Demnach waren Varroa­milben schuld, eine invasive Hornis­senart oder der Klima­wandel. Unterm Strich sollte die Botschaft heraus­kommen: Wir wissen es nicht – Verbote von Neoni­ko­tin­o­iden wären also sinnlos.

Die Blaupause für diese Strategie, die auf das wissen­schaft­liche Grund­prinzip des Zweifels setzt, lieferten die usami­schen Tabak­kon­zerne. Die haben in den 1950er Jahren in einem Kartell beschlossen, die damals schon eindeu­tigen wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse über die Gefahren des Rauchens durch Ablen­kungs­for­schung zu verne­beln. Sie verkün­deten groß: „Wir nehmen die wissen­schaft­li­chen Erkennt­nisse ernst, wir werden selber die Wirkungen des Tabak­rau­chens erfor­schen.“ Dann finan­zierten sie Tausende von Studien, die in schreck­li­chen Tierver­su­chen mit kleinen Affen [unerträg­liche Bilder!] zeigen sollten, dass Tabak­rauch keinen Lungen­krebs auslöst, und andere Studien, die eine Fülle von anderen mögli­chen Ursachen ins Spiel brachten: darunter echte wie Asbest und absurde wie der Geburts­monat von Krebs­op­fern (angeb­lich haben Märzge­bo­rene ein erhöhtes Lungen­krebs­ri­siko). Das Mantra aller Vertreter der Zigaret­ten­lobby und der von ihnen finan­zierten Wissen­schaftler lautete: „Es gibt keinen wissen­schaft­lich evidenten Beweis dafür, dass Tabak­rauch Lungen­krebs verur­sacht und dass Nikotin abhängig macht.“ Daran hielten sie geschlossen fest, bis ein Mitar­beiter eines der Konzerne es geschafft hatte, Geheim­akten zu kopieren und an die Univer­sität San Francisco zu schicken, die bewiesen, dass die verant­wort­li­chen Manager intern ganz offen über die Schäd­lich­keit des Rauchens sprachen. Ein von der Tabak­wer­bung finan­zierter Showmaster machte sich jahre­lang einen Spaß daraus, in seinen Shows Wissen­schaftler als Lügner zu verleumden, die die Wahrheit übers Rauchen sagten, und sich dann genüss­lich drei Zigaretten gleich­zeitig anzuzünden. Er lernte erst um und bekannte seine Sünden, als er selbst an Lungen­krebs erkrankte.

Der belgi­sche Biologe Frede­rick vom Saal kam durch einen Zufall dahinter, dass Plastik­fla­schen einen Stoff enthalten, der auch in sehr kleinen Mengen in Organismen wie das Hormon Östrogen wirkt: der Weich­ma­cher Bisphenol A. Man nennt solche Stoffe endokrine Disrup­t­oren, weil sie in kleinsten Mengen in der Lage sind, endokrine Prozesse zu stören. Die Chemie­in­dus­trie hielt mit eigenen Studien dagegen, die den Zusam­men­hang bestritten, und die Toxiko­logen wehrten sich gegen die These, dass es Stoffe geben könne, die unabhängig von der Dosis schäd­lich sind. Denn die stellte einen Grund­pfeiler ihrer Arbeit in Frage. Vom Saal machte eine Metastudie und kam zum Ergebnis: In 93 % aller öffent­lich finan­zierten Studien wurde der Disrup­t­o­ren­ef­fekt von Bisphenol A nachge­wiesen, jedoch in 0 % der indus­trie­fi­nan­zierten Studien. Wie war es möglich, zu solchen verzerrten Ergeb­nissen zu kommen? Vom Saal stellte fest, dass die Indus­trie­stu­dien mit einer sehr speziell „designten“ Ratten­rasse gearbeitet hatten: Ratten, die auf Fettlei­big­keit und einen sehr hohen Östro­gen­spiegel gezüchtet worden waren. Diese Ratten waren unemp­find­lich gegen zusätz­li­ches Östrogen. Es gibt Kataloge von Versuchs­tier­züch­tern, in denen man Mäuse und Ratten mit den unter­schied­lichsten biolo­gi­schen Eigen­schaften kaufen kann – offenbar genau zu dem Zweck, Studien mit erwünschten Ergeb­nissen zu ermög­li­chen.

Die usami­sche Wissen­schafts­his­to­ri­kerin Naomi Oreskes erforschte die Biogra­phien jener Physiker, die sich am frühesten und vehemen­testen gegen die These von der menschen­ge­machten Erder­wär­mung gewandt hatten. Sie fand heraus, dass sich fast alle zuvor stark im Kalten Krieg als Antikom­mu­nisten engagiert hatten. Das lag für viele Physiker nahe, weil Raumfahrt und Weltraum­for­schung seit 1957 einer der spekta­ku­lärsten Kampf­plätze des Kalten Krieges gewesen waren. Nach dem Zusam­men­bruch der Sowjet­union brauchten diese Menschen neue Feinde und fanden sie in den Grünen. Das Heart­land-Institut, eine von der Erdöl- und Chemie­in­dus­trie finan­zierte konser­va­tive Propa­ganda-Organi­sa­tion, verbrei­tete das Bild, Umwelt- und Klima­schützer seien »Wasser­me­lonen«: außen grün und innen rot. Sie seien verkappte Kommu­nisten, denen es darum gehe, den Kapita­lismus zu schädigen. Oreskes glaubt, dass in diesem Fall Ideologie die Verzer­rungen besser erklärt als direkte Finan­zie­rung. [Bei den Geologen, die sich ebenfalls vehement als »Klima­skep­tiker« hervor­getan haben, dürften aller­dings die finan­zi­ellen Inter­essen im Vorder­grund stehen, denn die bei weitem attrak­tivsten Jobs für Geologen gab und gibt es in der Öl‑, Gas- und Kohle­för­de­rung. Auch die werden sich plötz­lich wandeln, sobald unter­ir­di­sche Speicher­stätten für Kohlen­di­oxid gebraucht werden.]

Als der erste globale Umwelt­gipfel 1992 in Rio de Janeiro tagte und über Maßnahmen gegen die Erder­wär­mung beriet, reagierten viele Natur­wis­sen­schaftler aller­gisch. Auf Initia­tive des franzö­si­schen Wissen­schafts­pu­bli­zisten Michel Salomon tagten konser­va­tive franzö­si­sche und deutsche Naturwissen­schaftler in Heidel­berg und verfassten einen Heidel­berger Appell, der sich gegen »irratio­nale Positionen« wandte, die angeb­lich den wissen­schaft­lich-techni­schen Fortschritt hemmen. Diesen Appell unter­zeich­neten über 4000 Wissen­schaftler, darunter 72 Nobel­preis­träger. Später kam heraus, dass Salomon und sein Kongress von der Asbest­in­dus­trie bezahlt worden waren, die Umwelt­auf­lagen gegen Asbest verleumden und ausbremsen wollte. Hier schließt sich ein Kreis, der den Filme­ma­chern entgangen ist: Die Gefahr von Lungen­krebs durch Asbest­fa­sern war ursprüng­lich als Ablen­kungs­ma­növer im Auftrag der Tabak­in­dus­trie erforscht worden. Man kann also zuweilen auch mit Ergeb­nissen der Ablen­kungs­for­schung sinnvoll weiter­ar­beiten, weil die Branchen einander gegen­seitig die Schuld in die Schuhe schieben.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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