Gibt es ein Primat der „Todesverhinderung“?

Die deutsche Schriftstellerin Thea Dorn hat April 2021 die Seuchenregime der europäischen Regierungen kritisiert: Sie stünden unter dem Primat einer „Todesverhinderung“ um jeden Preis, nämlich auch um den Preis schwerwiegender und langfristiger Schäden für Demokratie, Gesellschaft und Kultur. Anonyma hat wiederum diesen Begriff scharf kritisiert: Er könne aus dem „Wörterbuch des Unmenschen“ stammen, das Dolf Sternberger und andere 1945-48 in Artikelform verfassten, oder gar aus LTI, der von Victor Klemperer 1947 kompilierten „Sprache des Dritten Reiches“. Also bin ich als Historiker und Texter gefragt, der Sache nachzugehen.

Mir fällt spontan auf, dass Dorns Wortschöpfung sehr unangenehm klingt. Das ist auch Anonyma aufgefallen. Deshalb lautete ihr Vorwurf: Mit diesem Wort habe Dorn die „Lebensrettung“ als primäres Ziel der Seuchenregime bewusst desavouieren wollen. Das Wort suggeriert, es könne schlecht sein, Todesfälle zu verhindern. Doch was könnte daran schlecht sein? Spielt hier jemand mit dem Nutzen, den es für die Gesellschaft haben könnte, wenn bestimmte Leute sterben? An dieser Stelle scheint Goebbels‘ Klumpfuß mitzuklappern. Manche Goebbelssche Wortschöpfungen waren ebenfalls neu zusammen­gesetzte Substantive; sie segelten unter der Flagge der Häme und dienten der Professionalisierung des Mordes. Klemperer nannte als typische Beispiele „die Rathenaubeseitiger“ (LTI, S. 46) oder „Volksschädlings-bekämpfer“ (LTI, S. 331). In beiden Fällen ging es darum, Mord zu einem Beruf zu erklären. Doch ist Dorns Wort hämisch gemeint? Will sie mit diesem Wort eine Gruppe von Menschen der allgemeinen Verachtung preisgeben? Will sie, dass wir uns auf die Schenkel klopfen, wenn wir Tausende von Menschen, die die Gesellschft der Jungen nur belastet haben, endlich losgeworden sind? So etwa würde Goebbels die Seuche als Waffe einsetzen. Der Zusammenhang von Dorns Satz gibt eine solche Deutung nicht im entferntesten her. Sie formulierte ihre Sorge um die Zukunft der demokrati­schen Kultur.[1] Ich nehme das als Motiv ernst und werte es bis auf weiteres nicht als Ausrede für Gequengel über verlorene Lebensfreuden. Wobei ich auch die Klage über verlorene Lebens­freude als Motiv einer Einrede legitim finde.

Wie war der Kontext? Im ZEIT-Gespräch mit den Schriftstellerinnen Daniel Kehlmann und Juli Zeh kritisierte Thea Dorn das „größenwahnsinnige Ziel des Homo Deus“, alles durch Computermodelle steuerbar machen zu können. Juli Zeh wandte ein: „Das Parlament wird niemals durch einen Algorithmus ersetzt werden. Dauerhafte Problem­lösungen, die in der Lage sind, den gesellschaftlichen Frieden zu garantieren, müssen gemeinsam getroffen werden. Das ist die Grunderkenntnis von Demokratie.“ Dazu sagte Dorn: „De facto erleben wir eine Politik, die nicht um Ausgleich zwischen Ansichten und Bedürfnissen ringt, sondern ein alles dominierendes Ziel verfolgt: Todesverhinderung.“ Als Beispiel nannte sie den SPD-Politiker Thomas Kutschaty, der gesagt hatte: „Der schwerste Grundrechtseingriff ist jedoch leider der Tod.“ Dorn wies darauf hin, dass der Tod (durch Krankheit u.ä.) außerhalb der Kompetenz des Staates und damit außerhalb des Geltungsbereichs des Grundgesetzes liege. In der Tat suggeriert der Satz Kutschatys ungewollt, es gebe ein staatlich garantiertes Grundrecht auf Unsterblichkeit.

Was ist im Vergleich ein Primat der „Lebensrettung“? Betrachten wir zum Beispiel einen Waldbrand oder ein Erdbeben. Wenn so etwas passiert, stehen alle Maßnahmen, die Regierungen und Nachbarschaften ergreifen, unter dem Primat der Lebensrettung: Alles andere muss zurückstehen, auch Grundrechte wie Freizügigkeit, Unverletzlichkeit der Wohnung oder Eigentumsgarantie, um die akut gefährdeten Menschenleben zu retten. Bei einer Feuersbrunst dauert diese Phase ein, zwei Tage, bei einem Erdbeben eine Woche. So lange nehmen fast alle Betroffenen die Einschränkung ihrer Grundrechte willig hin. Die Coronaseuche allerdings dauert nun schon siebzehn Monate. Deshalb handelt es sich nicht mehr um dieses bekannte Retten von Menschenleben aus katastrophaler Not. Die Maßnahmen des Seuchenregimes haben sich zum Dauer­zustand verfestigt und so ihren Charakter verändert. Das ist ein wichtiger Unterschied, auf den Thea Dorn und Juli Zeh zurecht hingewiesen haben.

Es kommt ein zweiter, allerdings sehr heikler Unterschied hinzu, der im Wort „Todesverhinderung“ mitklingt, vielleicht ohne dass es Dorn bewusst war. Anders als bei einem Waldbrand oder einem Erdbeben sind die meisten Opfer der Seuche sehr alte Menschen mit Vorerkrankungen. Bis 2019 war es in der europäischen Medizin üblich, solche Menschen an einer Lungenentzündung, etwa nach einer Grippe­erkrankung, sterben zu lassen. Man nannte den Tod durch Lungenentzündung „den Freund des alten Mannes“, da er relativ sanft verläuft und Menschen von quälenden Leiden erlösen kann.[2] Im Zuge der Coronamedizin hat sich das plötzlich verändert. Wenn solche Menschen positiv getestet werden, lässt man sie nicht mehr an einer Lungenentzündung sterben, sondern verlängert mit allen medizinischen Mitteln ihr Leben. Offenbar weil wir uns das von Dorn aufgespießte Prinzip auferlegt haben, dass an Covid-19 niemand sterben dürfe. Das mag am Anfang der Seuche noch sinnvoll gewesen sein, weil sie so plötzlich, eben wie eine Naturkatastrophe, über uns kam. Doch inzwischen ist es wohl nicht mehr sinnvoll, weil das Virus mehr und mehr endemisch wird wie ein Grippevirus.[3] Wir müssen lernen, mit dem Virus zu leben, und zwar außerhalb eines Katastrophenmodus; das haben zum Beispiel der Virologe Bodo Plachter[4] und der Neurochirurg Madjid Samii[5] gesagt. Mit ihrem verunglückten Wort hat Thea Dorn die Frage aufgeworfen, wie lange es noch sinnvoll ist, den Tod von Corona-Infizierten mit allen Mitteln eines perpetuierten Katastrophenzustandes zu verhindern oder hinauszuzögern – so wie wir es mit Grippe-Infizierten nie getan haben. Anschlussfrage: Wenn wir das bei Covid-19 so machen, müssen wir das dann auch bei allen kommenden Influenzawellen so machen? Auch dann wieder mit Lockdown, Masken­pflicht, Ausgangs­sperre, Umarmungsverbot?

Es hat schon im Frühjahr 2020 Stimmen gegeben, die in diese Richtung gesprochen haben, so in Großbritannien, den Niederlanden und Schweden, teilweise unter dem ähnlich unangenehmen Schlagwort „Durchseuchung“. Das war bei der ersten Welle verfrüht, weil die noch den klassischen Katastrophen­charakter hatte und deshalb unweigerlich die seit Jahrhunderten eingeübten Maßnahmen des Seuchenregimes auslöste. Auch bestand damals die Hoffnung, dass es bei einer Welle bleibt, die schnell vorbeigeht, wenn alle konsequent dagegen vorgehen. Aber jetzt stehen wir trotz aller Lockdowns und Masken weit im zweiten Jahr der Seuche. Das bedeutet, dass die Bereitschaft der Menschen, auf Freiheiten und Lebensqualität zu verzichten, immer weiter abnimmt. Es ist aus der Geschichte bekannt, dass Seuchenregimes oft auf diese Weise geendet haben.[6] Das heißt, es kommt der Tag, an dem sich die Mehrheit entscheidet, die Masken abzulegen und das Kulturleben (einschließlich Chorsingen, Tourismus, Gaststätten, Discotheken, Tanzschulen, Fitness­studios, Spielhöllen und Bordellen) wieder aufzunehmen, obwohl das Virus noch da ist und obwohl immer noch Menschen im Zusammenhang mit einer Corona-Infektion sterben. Es ist nicht angebracht, diese Entwicklung und ihre Fürsprecherinnen moralisch zu verurteilen. Sie haben gute Gründe, die es wert sind, erwogen zu werden.


[1]      In dem ZEIT-Gespräch der Schriftstellerinnen und -ler Thea Dorn, Daniel Kehlmann und Juli Zeh, erschienen am 29.4.2021, ging es vor allem um das Problem des Ausnahmezustands.

[_ftn2]      So z. B. der Palliativmediziner Matthias Töns in MMW – Fortschritte der Medizin 20/2016. Des Mannes wohl, weil Männer häufiger von dieser Todesart betroffen sind. Auch Adelheid Müller-Lisner im Tagesspiegel 27.9.2012 erwähnte diese Sichtweise.

[3]      SARS-CoV2 wird wahrscheinlich endemisch. zm online 17.2.2021

[4]      in SWR 2, 4.11.2020

[5]      in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung 28.2.2021, zusammengefasst bei RND

[6]      So enden Pandemien. Quarks 8.9.2020

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

Ein Gedanke zu „Gibt es ein Primat der „Todesverhinderung“?“

  1. Anonyma hat anderswo meinen Begriff „Seuchenregime“ kritisiert. Er diene der Diskreditierung von Maßnahmen der Regierung, die sonst vor allem von den „Querdenkern“ kritisiert würden. In dem von mir verlinkten Artikel „Die Seuche als historisches Ereignis“ vom Juli 2020 habe ich jedoch diese Maßnahmen gerechtfertigt und in einen historischen Zusammenhang gestellt: Sie entsprachen einer seit Jahrhunderten bekannten Praxis der Seuchenbekämpfung. Indem ich die Corona-Pandemie eine Seuche nenne, stelle ich sie in eine Reihe mit Pest- und Cholera-Epidemien (auch ausdrücklich in dem Artikel vom Juli 2020). Das ist eher das Gegenteil von dem, was die „Querdenker“ sagen. Mir ist es aber wichtig klarzustellen – und je länger das dauert, um so wichtiger -, dass es sich um ein Regime handelt: um Zwangsmaßnahmen, die meine Freiheit einschränken. Ich sehe keinen Grund, die seit über einem Jahr anhaltende zwangsweise Einstellung meiner Chorproben als technische Maßnahme zu verharmlosen. Das ist ein gravierender Eingriff in die Entfaltung meiner Persönlichkeit. Deshalb verwende ich das Wort Regime.

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