Richard Häusler, Leiter der Berliner Beratungsagentur Stratum Consult, agitierte im Mai und Juli 2023 gegen positiv formulierte Nachhaltigkeitsziele, also das UN-Programm eines »guten Lebens für alle«. Er verwies darauf, dass Menschen sehr unterschiedliche positive Ziele verfolgen, und fragte: „Wie kommen wir also dazu, unter dem Ethos-Label „Nachhaltigkeit“ ein einheitliches Lebensglück und ‑ziel für alle zu postulieren?“ Während positive Ziele kaum konsensfähig seien, seien wir uns in der Regel schnell darüber einig, welche negativen Erlebnisse und Gefahren wir vermeiden wollen. Dieser Ansatz prägt auch viele Kunstwerke. Ich stimme seiner Schlussfolgerung zu, nicht jedoch seiner anthropologischen Herleitung, und biete eine sozialkulturelle Alternative an.
Häusler berief sich auf den Managementberater Reinhard K. Sprenger, der in einem Beitrag mit dem Titel »Die positive Kraft des negativen Denkens« sagt: „Wenn man mit Menschen spricht, bin ich immer wieder erstaunt, wie unterschiedlich sie ihr Leben gestalten. Der eine sucht Geld, der andere Freizeit, der eine soziale Bedeutung, der andere friedvollen Rückzug. Letztlich weiß niemand, was in einem absoluten Sinne gut, richtig und wahr ist“ (»Gehirnwäsche trage ich nicht«, Campus, 2023).
Angeblich dominieren in der emotionalen Ausstattung des Menschen die „negativen“ Gefühle die „positiven“. So definiert Harlich Stavemann, der Begründer der integrativen kognitiven Verhaltenstherapie, sechs „negative“ und nur zwei „positive“ menschliche Grundgefühle: Trauer, Ärger, Angst, Niedergeschlagenheit, Scham und Abneigung auf der einen, Freude und Zuneigung auf der anderen Seite. Hier allerdings wende ich ein, dass Stavemann dabei eine Reihe von positiven Gefühlen wie Begeisterung, Lust, gemeinsamen Spaß, Stolz und Zufriedenheit ausgelassen hat; abgesehen von den Formen der Liebe, die über bloße Zuneigung hinausgehen.
Deshalb bezweifle ich die Schlussfolgerung, dass wir als Spezies eher darauf programmiert seien, negative und bedrohliche Zustände wahrzunehmen als positive, beglückende. Das ist schon auf platt biologischer Ebene zweifelhaft, denn Säuglinge sind extrem stark auf die positive Befriedigung programmiert, die sie an der Mutterbrust erleben, und in der Lust, die wir beim Essen und Trinken empfinden, in der großen Freude, die wir an Zärtlichkeit haben, lebt diese starke Lebensorientierung weiter bis zum Tod.
Sichern nur negative Gefühle unser Überleben?
Laut der Psychologin Fanny Jimenez sind positive Gefühle „zwar schöner, negative aber sichern das Überleben. Denn sie liefern eine blitzschnelle Einschätzung der Lage und bereiten die Reaktion auf sie vor: ob man von Freunden oder Feinden umgeben ist, ungerecht oder gerecht behandelt wird, oder ob etwas gefährlich ist oder nicht.“ Diese Argumentation, formal ein Basta-Dogma, erklärt nicht wirklich die angebliche Dominanz negativer Gefühle; denn in den Alternativen, die Jimenez erwähnt – Freunde oder Feinde, gerechte oder unerechte Behandlung – sind jeweils auch positive Gefühle im Spiel: Wenn wir unter Freunden sind, haben wir gemeinsamen Spaß, fühlen uns geborgen, freuen uns an Musik, am Tanzen; wenn wir gerecht behandelt wurden, sind wir zufrieden. Wir können also die positiven Gefühle genau so gut zur Orientierung benutzen wie die negativen.
Obwohl ich Häuslers Begründung bezweifle, gebe ich ihm in einer Schlussfolgerung recht: Wir können uns, zumindest politisch, besser darüber verständigen, was wir nicht wollen, als darüber, was wir wollen. Beim Konsum allerdings scheint das nicht zu gelten: Werbung arbeitet traditionell mit positiven Wünschen wie denen nach Reichtum, Ruhe, Ruhm oder Rausch. (Wobei der Wunsch nach Ruhe oft mit der Angst vor Gefahr kombiniert wird.) Politisch und philosophisch erscheint es auch mir vernünftig, wenn wir uns, wie Häusler vorschlägt, „auf eine »negative Ethik« verständigen, die kein Ziel hat außer dem, konkret absehbaren Schaden zu vermeiden“ und „ansonsten die Menschen machen lassen, wie sie wollen“. Zumal Philosophen wie Immanuel Kant und Gustav Landauer schon auf ganz ähnliche Ideen gekommen sind. Allerdings kann die Vermeidung absehbarer Schäden wie der Klimakatastrophe ziemlich weitreichende Eingriffe in persönliche Lebensgewohnheiten erfordern.
Sozialkulturelle Erklärungen
Die Dominanz negativer Einschätzungen und Gefühle, die man – zumindest oberflächlich – beobachten kann, wenn man Passanten ins Gesicht sieht oder gar Medien konsumiert, kann ganz andere Gründe haben als steinzeitlich-genetische. Gegen die Behauptung, dass es sich um eine anthropologische Konstante handle, spricht die historische Tatsache, dass das kapitalistisch infizierte Bürgertum seine ewige Unzufriedenheit, Ungeduld und Gereiztheit im kühlen 19. Jahrhundert gegen ältere Grundhaltungen durchsetzen musste, die man damals als »träge Bärenhäuterei« oder später als »gottergebenen Fatalismus« verleumdete. In jenen früheren Jahrhunderten oder anderen Kulturkreisen sahen die Menschen lieber das Positive ihrer aktuellen Lage oder verbuchten das Negative als unvermeidlich-irdisches „Jammertal“, als sich wie heutige Verkehrsteilnehmer routinemäßig über Ungerechtigkeiten und Verzögerungen zu beschweren. Also Vorsicht vor Kurzschlüssen auf die Steinzeit! Bei Journalisten gibt es ein starkes Motiv, die eigene Position als „unabhängige Kritiker“ darin zu zeigen, dass man lieber über Probleme als über Lösungen und lieber über Konflikte als über Einigungen berichtet. Es ist die Angst, man könne als parteiisch gescholten werden, wenn man z. B. über die positiven Folgen einer Lösung berichtet. Auch das ist ein sozialkulturelles Phänomen, eine Art Kollateralschaden der bürgerlichen Demokratie, und kein anthropologisches.