Lindners Ungeduld: eine Frage von Leben und Tod

Foto Europäischer DachsVon Rasern bedroht: Europäi­scher Dachs (By Badger­Hero (Own work) [CC BY-SA 3.0 or GFDL], via Wikimedia Commons)

„Ungeduld ist auch eine Tugend.“ Behauptet ein Wahlplakat der FDP für die Bundes­tags­wahl 2017. Dazu ein merkwür­diges Foto von Chris­tian Lindner im weißen Hemd, der hier nicht wie andere Politiker den Betrachter anschaut, sondern ganz mit sich selbst beschäf­tigt ist und nach links unten auf den Boden blickt. Oder auch auf den letzten Tweet von Trump (nicht im Bild).

Ein schönes Basta- und Beton­kopf­dogma aus dem Kapitel Tugend und Laster. „Ungeduld“ ist seit vielen Jahren die Standard­ant­wort, wenn eine deutsche Führungs­kraft im Inter­view nach ihrem größten Fehler oder Laster gefragt wird. Beispiele nannte brand eins 2007: Roland Koch, Roland Berger, Marcel Reich-Ranicki, Donna Leon, Leander Haußmann, Til Schweiger, Margot Käßmann, Vural Öger, Heiner Lauter­bach u.a. Das Phänomen ist mir schon 1999 aufge­fallen und führte mich damals zu dem nahe liegenden Gedanken: Wenn Ungeduld ein Laster der Herrschenden ist, dann ist Geduld wohl ein Laster der Beherrschten. Norma­ler­weise sehen wir Geduld als Tugend. Aber hier will ich sie einmal als Laster sehen, weil sie die Beherrschten dazu bringt, auch unerträg­liche Herrschaft geduldig hinzu­nehmen, statt sich dagegen aufzu­lehnen. Lindner hat nun umgekehrt ein Laster zur Tugend umdefi­niert, er natür­lich nicht die Geduld, sondern die Ungeduld.

Auf der Straße, auf der ich vorges­tern Morgen das Plakat gesehen habe, habe ich zwei Abende zuvor einen Dachs gesehen – zum ersten Mal im Leben einen Dachs in freier Wildbahn. Er überquerte kurz vor meinem (gelie­henen) Auto im Dunkeln die Schnell­straße, die dort den Teuto­burger Wald durch­schneidet. Zum Glück fuhr ich nur 70; deshalb blieb der Dachs am Leben. Wäre ich ein ungeduldig rasender Lindner, wäre er jetzt wahrschein­lich tot. Hätte ich einen ungeduldig drängelnden Lindner im Nacken gehabt, wäre er mir vielleicht hinten drauf­ge­fahren, als ich wegen des Dachses reflex­haft abbremste. Oder ich hätte mich von dem ungeduldig drängelnden Lindner dazu nötigen lassen, den Dachs doch zu überfahren.

Lindner und seine Wähler, wage ich hier zu behaupten, töten lieber einen Dachs oder die geliebte Katze eines Nachbarn, als fünf Minuten später zu Hause oder sonstwo anzukommen. Ist diese Priori­tä­ten­set­zung eher tugend­haft oder eher laster­haft? Wenn das Leben den Maßstab dafür bildet, ist sie offen­sicht­lich eher laster­haft. Wer den Tod von Dachsen in Kauf nimmt, nimmt unter ungüns­tigen Umständen auch den Tod von Menschen in Kauf. Lesen Sie dazu die beiden erschüt­ternden Essays von Thomas Gsella über Raser und das Tempo­limit (FAZ 2015; Zeit 2017). Ein mutmaß­lich ungedul­diger deutscher Autobahn­raser tötete 2014 Gsellas Schwester und deren Tochter. Zahlreiche Brüder im Geiste des Täters fanden sich nach Gsellas erster Stellung­nahme in der FAZ, um die Schuld an dieser Tragödie den beiden Opfern zu geben. Ihrer Meinung nach wurden die Überhol­spuren der Autobahnen ausschließ­lich für Raser gebaut. Wenn eine Nicht­ra­serin sie benutzt, um einen Lkw zu überholen, stirbt sie dort im Konflikt­fall völlig zurecht, meinen diese Herren. Was meinen Sie eigent­lich dazu, Herr Lindner? Wem gehört die bundes­deut­sche Überhol­spur?

Der Psycho­loge Arno Gruen legte in seinem Buch “Der Fremde in uns” noch ein Brikett drauf. Am Beispiel Hitlers stellte er die These auf, dass sich in der Ungeduld bestimmter Menschen die kindi­sche Unfähig­keit äußere, mit Ungewiss­heiten zu leben (S. 110). Hitler z. B. versuchte stets, Situa­tionen der Ungewiss­heit durch die Pose der »äußersten Entschlos­sen­heit« zu überspielen. Lenin kriti­sierte ein ganz ähnli­ches Verhalten links­ra­di­kaler Kommu­nisten 1920 in seiner Schrift »Der linke Radika­lismus, Kinder­krank­heit (!) des Kommu­nismus«: »Sie verwech­seln Wunsch­denken mit Tatsa­chen… sie führen Ungeduld als theore­ti­sches Argument aus.« Dahinter steckt nach Gruen die Unfähig­keit, Angst auszu­halten.

Kann denn Unfähig­keit eine Tugend sein? Wohl kaum, deshalb mein Antidogma:

Ungeduld ist lebens­ge­fähr­lich – vor allem für die anderen.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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