Das Über-Böse ist immer und überall? Einspruch, hohes Gericht!

Rebekka Reinhard näherte sich im Herbst 2017 in der »Hohen Luft« philo­so­phisch dem Holly­wood­thema Nr. 1, der Grausam­keit. Eine Mordszene aus Martin Scorseses Spiel­film „Casino“ steht als Prolog Pate. Dabei stellt sie einige Thesen über Gewalt und Grausam­keit auf, deren Dogmen­cha­rakter ich kriti­sieren will. Vor allem diese These: „Grausam­keit von Mensch zu Mensch geschieht ständig und überall, im Krieg, im Alltag, im Privaten wie im Politi­schen.“

Das absulut Extreme ist das Alltägliche?

Rebekka Reinhard beruft sich auf die usami­sche Polito­login Judith N. Shklar (1928−1992), den Hamburger Litera­tur­his­to­riker Jan Philipp Reemtsma (*1952) und den franzö­si­schen Philo­so­phen Henri Bergson (1859−1941). Sie schreibt auch: „Wo das Grauen wütet, versagen unsere Begriffe und Normen.“ Dieser Behaup­tung kann man ebenfalls wider­spre­chen – aber auf ihren eigenen Beitrag scheint sie teilweise zuzutreffen, zumin­dest auf die Einlei­tung. Denn mir fällt ein schrei­ender Wider­spruch auf: Einer­seits definiert sie das Grausame als das absolut Extreme und benutzt dabei Bilder, die uns von Filmre­gis­seuren wie Scorsese, Taran­tino oder Demme brutal in die Köpfe gehäm­mert werden: „Grausam­keit ist das überflüs­sige oder exzes­sive Element des Bösen… Sie verstüm­melt mit Äxten, Maschi­nen­ge­wehren, Beilen, Sicher­heitsnadeln… Wenn Anhänger des IS vor laufender Kamera Menschen köpfen, wenn ein Mann das Glied eines anderen isst…“ Anderer­seits behauptet sie, wir würden der Grausam­keit täglich begegnen, und wirft, um diese steile These zu unter­mauern, etwas ganz Vages wie „syste­ma­ti­sche Missach­tung“ in den gleichen Topf wie Folter, Kanni­ba­lismus und Genozid. Ist eine derart breit gefasste Kategorie für eine philo­so­phi­sche Analyse überhaupt tauglich? Das bezweifle ich.

Eine Tendenz zur Grausamkeit?

Das »Immer und Überall« der Grausam­keit übernimmt Reinhard vor allem von Jan Philipp Reemtsma, der behauptet hat, in jeder Form der Gewalt stecke die Tendenz zur Grausam­keit, also zur „sinnlosen“ Zerstö­rung des Körpers des Opfers, die dann aber doch den Sinn hat, dem Täter „den größten menschen­mög­li­chen Ausdruck von Macht“ zu verleihen. Reemtsma mag diese Einschät­zung auf Gewalt­phan­ta­sien stützen, die wahrschein­lich fast jeder einmal im Kopf hatte. Aber welchen Sinn hat es, Phanta­sien den Charakter von Reali­täten zu geben? Ich habe auch gelegent­lich die Phantasie, das Haus, in dem ich mich gerade befinde, könnte einstürzen. Oder der Autofahrer, der mir auf der Landstraße begegnet, könnte plötz­lich nach links ausscheren und frontal mit mir zusam­men­stoßen. Solche Dinge passieren tatsäch­lich ab und zu (viel häufiger als Köpfungen, Ketten­sä­gen­mas­saker oder Kanni­ba­lismus). Dennoch ist es, denke ich, sinnlos, ein Haus über seine Potenz her zu definieren, dass es seine Bewohner unter Schutt begraben kann, oder ein Auto über seine Potenz, einem Amokfahrer als Waffe zu dienen. Wir sollten stets im Blick behalten, wie selten und untypisch solche Ereig­nisse sind.

Reinhard und Reemtsma geben das indirekt selber zu, wenn sie jene Geistes­wis­sen­schaftler kriti­sieren, die „grausame Phäno­mene am liebsten aus sicherer Entfer­nung betrachten“ (Reinhard), und ihnen Menschen gegen­über­stellen, die wie Judith Shklar oder Reemtsma Grausam­keiten am eigenen Leibe oder am Leibe ihrer Angehö­rigen erfahren haben. Es könnte ja sein, dass jene Geistes­wis­sen­schaftler aufgrund ihrer bislang wenig bedrohten Lebens­läufe den realis­ti­scheren Blick haben: nämlich den, dass Grausam­keit selten und außer­ordentlich ist und nur wenigen Menschen zustößt. Hier lauert ein weiterer Wider­spruch in Reinhards Argumen­ta­tion: Einer­seits behauptet sie, wer noch nie Opfer einer Grausam­keit war, könne sich kaum je in die Rolle eines Opfers hinein­fühlen. Anderer­seits erklärt sie am Ende des Artikels ganz viele Dinge zu Grausam­keiten, einschließ­lich des „tonlosen, achtlosen Geläch­ters…, das Menschen täglich umgibt“. (Mir ist es noch nicht aufge­fallen.) Nun, wenn wir sie doch so häufig selber erfahren, wieso sollen wir uns dann nicht in die Rolle von Opfern versetzen können? Reinhard deutet an, dass sie Mitdis­ku­tanten des Themas dazu verpflichten will, in einer Virtual-Reality-Projek­tion eine von Scorsese, Taran­tino oder Demme insze­nierte Folter über sich ergehen zu lassen. Mir als sehr empathie­fä­higem Zeitge­nossen kommt diese Zumutung selbst als Akt einer versuchten Grausam­keit vor.

Auslachen ist grausam?

Zum Schluss flicht Reinhard eine Ausfüh­rung Henri Bergsons über die Grausam­keit des Ausla­chens (oder des Ausge­lacht-werdens) ein. Das erinnerte mich spontan an den Satz einer Feministin: „Wenn ich Frauen frage, wovor sie in Bezug auf Männer Angst haben, dann antworten sie: Ich habe Angst, dass er mich umbringt. Wenn ich Männer frage, wovor sie in Bezug auf Frauen Angst haben, dann antworten sie: Ich habe Angst, dass sie mich auslacht.“ Das fand ich damals so frappant, dass ich schlag­artig die Macht­hier­ar­chie zwischen Männern und Frauen erkannte. Und jetzt erfahre ich von einer Frau, dass die Männer Recht hatten: Ausla­chen ist noch schlimmer als Umbringen. Denn Umbringen ist nur böse; Ausla­chen ist grausam.

Dem wider­spreche ich und sage:  Nur wer wirklich und absicht­lich den Körper eines Opfers zerstört hat, um seine totale Macht über das Opfer zu genießen, war grausam. Leugne ich damit seeli­sche Grausam­keit? Nein, aber ich lege einen strengen Maßstab an: Seelisch grausam war, wer sein Opfer absicht­lich in den Suizid getrieben hat, um seine totale Macht über das Opfer zu genießen. Auch der Versuch ist verdam­mungs­würdig.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.