Welchen Sinn die Randale in Hamburg hatte – und welche Konsequenzen wir, die pazifistischen Linken, daraus ziehen müssen.

Katja Kipping und andere Linke beklagten sich über die »sinnent­leerte Gewalt in Hamburg«. Einige der militanten „Links­ra­di­kalen“, die dort den Bürger­krieg geprobt haben, waren militä­risch so gut organi­siert, dass die Polizei keine Chance hatte, sie zu stoppen. Details darüber bringt die Repor­tage »Der Mob« in der »Zeit« vom 15.7.2017. Zugleich ist festzu­stellen, dass die Botschaften der fried­li­chen Demons­tranten zum G20 in den Medien und sogar in den Diskus­sionen, die „wir Linken“ jetzt führen, praktisch unter­ge­gangen sind. Es ist an der Zeit, an dieser Stelle 1 und 1 zusam­men­zu­zählen: Genau das war offenbar der Sinn der Attacken auf Altona und das Schan­zen­viertel.

Zigtau­sende haben in Hamburg fried­lich und mit fantas­ti­schen Ideen gezeigt, dass eine bessere Welt möglich ist; dass es sich lohnt, die Welt nicht den Beton- und Profit­köpfen, den Herren der Großkon­zerne, den Ausbeu­tern zu überlassen. Vier Beispiele:

  • Bei der »G20-Protest­welle« am 2. Juli forderten rund 20.000 Demonstrant*en den sofor­tigen Ausstieg aus der Kohle und einen »fairen Welthandel«. <Bericht><Film>
  • Bei der Kunst­ak­tion »1000 Gestalten« am 5. Juli demons­trierten 1000 Aktive, in graue Lehmkrusten gehüllt, wie sich Menschen benehmen, die ihre Welt nicht verstehen, sich hilflos fühlen, keine Solida­rität üben, einzeln bleiben – und wie erlösend es am Ende ist, wieder bunt zu werden, einander zu umarmen und sich zu freuen. <Beschrei­bung und Film bei 3sat>
  • Zur Großdemo »Grenzen­lose Solida­rität statt G20« am 8. Juli kamen 76.000 Menschen. Es war eine der größten Demos in der Geschichte Hamburgs. <Filme><Film>
  • Madeleine Does vom Hamburger Netzwerk »Recht auf Stadt« sagte auf der Abschluss­kund­ge­bung am 8. Juli: »Sie kamen mit Heliko­pter-Lärm und Polizei-Sirenen, wir antwor­teten mit Massen­ka­raoke und Nacht­tanz­demos. Sie bauen Mauern, wir wollen Brücken bauen. Sie stärken und produ­zieren Rassismus, wir riefen die „free and solida­rity city Hamburg aus“.« <Film und Text>

Ganz so kapita­lis­mus­kri­tisch, wie ich gehofft hatte, sind alle diese Äußerungen nicht – dazu weiter unten mehr; aber immerhin links­de­mo­kra­tisch. Leider spricht nach dem Ende des Gipfels fast niemand mehr über die großen Protest­ak­tionen. Die links­de­mo­kra­ti­schen und linken Botschaften sind im Rauch der brennenden Autos und Barri­kaden verschwunden. Nicht die Textil­kon­zerne müssen sich recht­fer­tigen, weil die Näherinnen, die sie routi­ne­mäßig ausbeuten, in Bangla­desh verbrennen. Nicht die Kohle­kon­zerne müssen sich recht¬fertigen, weil die globale Erwär­mung New Orleans und Dresden unter Wasser setzt. Sondern die, die die Finger in solche Wunden legen, sollen sich nun recht­fer­tigen und ihr Verhältnis zur Gewalt klären. Das ist es, was die „links­ra­di­kalen“ Kriegs­kom­mandos erreicht haben. Könnte es sein, dass es auch das ist, was sie errei­chen wollten?

Das linkssektiererische Weltbild

Ja. Denn im links­sek­tie­re­ri­schen Weltbild ist niemand böser als ein Linker, der nicht ganz so radikal ist wie der Sektierer selbst. Wenn der Sektierer wie seiner­zeit der kambo­dscha­ni­sche Diktator Pol Pot der Meinung ist, Hamburg müsse zerstört und die Stadt­be­wohner müssten gewaltsam in der Lüneburger Heide angesie­delt werden, dann sieht er in jedem Linken, der das für Quatsch hält, einen beson­ders raffi­nierten Agenten des Monopol­ka­pi­tals, dem mit allen Mitteln das Handwerk gelegt muss.

So gesehen, war aus Sicht der links­ra­di­kalen Randa­lierer niemand böser als Die Linke, Campact, Attac, der BUND, Green­peace, Pro Asyl usw., also die Veran­stalter der fried­li­chen Demons­tra­tionen für eine Welt ohne Krieg, ohne Ausbeu­tung, ohne Umwelt­zer­stö­rung. Wir also. Wir waren und sind die Agenten des Monopol­ka­pi­tals – so denken diese Typen. Deshalb nutzen sie schamlos die von uns geschaf­fene Infra­struktur (Busse, Camps, Aufrufe, Demos), um uns zu bekämpfen. Es ist ihnen in Hamburg leider gelungen. Mit ihren Steinen und Brand­sätzen haben sie es geschafft, alle unsere Demos, Reden und Aufrufe in der öffent­li­chen Wirkung auszu­lö­schen. Meine These ist: Genau das haben sie gewollt. Denn sie wollen das Monopol auf den „konse­quenten antika­pi­ta­lis­ti­schen Kampf“ reser­vieren für sich selbst, für Leute, die extrem brutal und menschen­ver­ach­tend vorgehen und keinerlei Achtung empfinden für Menschen, die inner­halb einer kapita­lis­tisch geprägten Welt leben und arbeiten. Wir dagegen sollen „entlarvt“ werden als „staats­tra­gende Refor­misten“, als gehor­same Teile des „Systems“ – und dafür auch noch die Platt­form zur Verfü­gung stellen. Der Halbstarke lässt sich von seiner Mutter zu einem Konzert der Gruppe »Kill Your Mother« chauf­fieren.

Die Linksradikalen waren schlauer als gedacht

Diese Gruppen sind doch nicht so dumm, wie ich anfangs dachte. Jetzt muss sich zeigen, ob wir schlau genug sind, Konse­quenzen zu ziehen. Konse­quenzen auf mindes­tens zwei Ebenen: der organi­sa­to­ri­schen und der ideolo­gi­schen. Organi­sa­to­risch müssen wir dafür sorgen, dass militante, sektie­re­ri­sche Gruppen künftig aus allen Medien und Struk­turen, die wir selbst gestalten, ausge­schlossen bleiben: aus allen Podiums­dis­kus­sionen, Aufrufen, Presse­ter­minen, Bussen, Camps, Bühnen usw. Auch müssen wir überprüfen, ob Gebäude, die sie benutzen (wie die Rote Flora), auf unsere Kosten finan­ziell oder materiell unter­stützt werden und gegeben­falls diese Unter­stüt­zungen kappen.

Ideolo­gisch müssen wir uns mit der Frage ausein­ander setzen, inwie­fern unser Einsatz für eine bessere Welt den Kapita­lismus grund­sätz­lich in Frage stellt und perspek­ti­visch überwindet. Kapita­lis­mus­kritik ist doch nicht daran gebunden, dass man Flaschen auf Polizisten wirft, die Scheiben von Banken und Droge­rie­markt­ketten einwirft oder die Autos seiner Nachbarn anzündet. Das anarchis­ti­sche Dogma, dass zunächst die Nachbarn zu plagen und der Staat zu zerstören sei, bevor sich etwas zum Besseren wenden könne, ist falsch. Völlig falsch in einer Zeit, in der es ja gerade die inter­na­tio­nalen Konzerne sind, die gezielt staat­liche Struk­turen (z. B. Besteue­rungs- und Umwelt­schutz­sys­teme) zerstören. Eine Steuer auf inter­na­tio­nale Finanz­trans­ak­tionen, eine ordent­liche Besteue­rung des Flugver­kehrs, strenge Umwelt- und Sozial­auf­lagen für Fracht­schiffe – solche Dinge hören sich harmlos an, wären aber Instru­mente, die den Global­ka­pi­ta­lismus empfind­lich treffen und zurück­drängen würden. Das ist der Grund, weshalb sie von den Konzernen und ihren Lobby­isten so vehement bekämpft werden.

Dass wir an dieser Stelle noch viel tun müssen, zeigen ungewollt die oben verlinkten Filme mit Kurzin­ter­views von Aktiven. Dort kann man konkrete Alter­na­tiven zum Kapita­lismus mit der Lupe suchen. Geprägt sind diese Äußerungen statt­dessen von vier Standard-Aussagen:

  1. Wir sind unglaub­lich bunt, aktiv und kreativ.
  2. Die Welt ist ungerecht.
  3. Wir retten die kommu­nale Wasser­ver­sor­gung, lassen die Flücht­linge rein, stoppen den Kohle­bergbau und zeigen als Schwule, dass wir uns nicht diskri­mi­nieren lassen. [Belie­bige Beispiele für ein demokra­tisch-ökolo­gi­sches Reform­pro­gramm.]
  4. Der Kapita­lismus ist an allem schuld. [An was genau? Inwie­fern? Wie soll es anders laufen? Fehlan­zeige.]

Auch ‹Zeit›-Redakteur Ijoma Mangold, der in der Ausgabe vom 15.7.2017 der links­mo­di­schen Kapita­lis­mus­kritik die Leviten liest, ist aufge­fallen, dass diese ungern klassen­kämp­fe­risch argumen­tiert, dafür viel lieber ästhe­tisch. Die erwähnte Kunst­ak­tion »1000 Gestalten« bestä­tigt das. Kann man dem Kapita­lismus wirklich vorwerfen, dass er alle Menschen grau macht?

***

Zu einer ähnli­chen Einschät­zung kommt Ludischbo auf freitag​.de.
Doch ansonsten läuft die Debatte unter den Linken eher in eine andere Richtung (Stand 21.7.2017).

Einige Laden- und Gaststät­ten­be­sitzer des Schan­zen­vier­tels nahmen am 12.7.2017 zu den Vorfällen Stellung. Nach ihrer Beobach­tung gingen die meisten Zerstö­rungen von betrun­kenen Gaffern und Party­gästen aus und nicht von einem Schwarzen Block. Diese – in Hamburg umstrit­tene – Erklä­rung wurde auszugs­weise auch im Attac-Rundbrief 3/​2017 abgedruckt.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

2 Gedanken zu „Welchen Sinn die Randale in Hamburg hatte – und welche Konsequenzen wir, die pazifistischen Linken, daraus ziehen müssen.“

  1. Wie viele, darunter auch ich, befürchtet hatten, sind die vielfäl­tigen Botschaften der konstruktiv tätigen Organi­sa­tionen im Vorfeld und Umfeld des G 20-Gipfels im der öffent­li­chen Wahrneh­mung unter­ge­gangen, weil die Bilder von sinnloser Zerstö­rung und Gewalt sich in den Vorder­grund gedrängt haben. Dabei ist es eigent­lich unerheb­lich, dass auch Behörden und Polizei takti­sche Fehler gemacht haben. Konse­quente Abgren­zung vom “schwarzen Block” ist nötig! Daran fehlt es oft noch. Auf der Website der Partei “Die Linke” finde ich nichts derglei­chen, obwohl doch sicher auch ihre Wahlchancen daran hängen.

  2. Guten Morgen Jens, jetzt habe ich ihn endlich mal gelesen, deinen Beitrag über die Randale in Hamburg. Sehr inter­es­sant ! Und eine wohltuend klare Haltung, die ich leider selbst noch nicht ganz verin­ner­licht habe. Gegen­über der radikalen Linken verspüre ich immer eine Art Beißhem­mung. Es ist ein bisschen wie das eigene Nest zu beschmutzen, würde man sich konse­quenter abgrenzen. Genau das ist natür­lich von den Radikalen gewollt und auch totaler Quatsch. Aber ich denke, das geht bestimmt nicht nur mir so. Mit einigen Menschen aus der Szene gibt es gemein­same Wurzeln, das macht es schwierig…Aber ich ringe um klare Abgren­zung ;-). Da helfen solche Beiträge wie deiner weiter.

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