Ich breche das letzte Tabu: Utopien ans Licht!

In der Weser­burg in Bremen fand im Sommer 2011 eine Kunst­aus­stel­lung unter dem Motto »Freibeuter der Utopie« statt. taz-Rezen­sent Jan Zier musste feststellen, dass von Utopien, also von Entwürfen einer anderen, vielleicht besseren Gesell­schaft, einer anderen, vielleicht besseren Lebens­welt o. ä. in der gesamten Ausstel­lung nichts zu sehen war. Ein paar Vorschläge für Utopien folgen hier.

In Bremen dominierte die Klage, vorzugs­weise inhalts­leer, aber Haupt­sache laut. Nicht dass man sich auf irgend­welche bösen Mächte festlegen wollte, die am bekla­gens­werten Elend der Mensch­heit schuld sein könnten, nein! Das wäre unschick­lich, ideolo­gisch, ewiggestrig. Und doch scheint es in den Augen der Künstler einen Schul­digen zu geben: Das ist der Betrachter oder Hörer ihrer Kunst­werke.

Wer die Ausstel­lung nicht betritt und die Berichte darüber nicht liest, ist fein raus: Den lassen die Herren Künstler (plus eine Dame) unbehel­ligt. Der Feind des Künst­lers ist sein Rezipient. Kein Wunder, dass auf dieser Grund­lage nie eine Utopie entstehen kann. Die müsste man ja gemeinsam mit den Rezipi­enten betreten. Und kein Wunder, dass die Rezipi­enten solche Künstler nicht ernst nehmen. Schließ­lich weiß jeder Rezipient letzt­lich, dass der arme Kerl, so sehr er sein Publikum auch hassen mag, dennoch abhängig von ihm ist wie von einer Droge. Und wie sehr er nicht zuletzt das Geld der Rezipi­enten braucht, um seine Miete bezahlen zu können. Wenn die Kunst­werke wenigs­tens lustig wären! Dann käme es aufs Ernst­nehmen nicht so an. Sind sie aber nicht, denn das wäre ja – ein schreck­li­cher Gedanke für den Künstler! – angenehm oder gar anregend für die Rezipi­enten.

Gut; um nicht selber im Sumpf der Klage stecken zu bleiben, füge ich als Künstler (nämlich als Brecher des letzten Tabus) noch ein paar Ideen für Utopien hinzu:

  • ein Autobahn­kreuz, das langsam von Disteln durch­bohrt und von Birken und Brombeeren überwu­chert wird
  • eine Wüste, die dem Rest der Welt ihre Wärme spendet
  • einen Zaun zwischen zwei Gärten, in dem sich ein Türchen befindet, durch das man hindurch­gehen kann, um mit der Nachbarin einen Kaffee zu trinken
  • ein Ex-Bundes­bänker, der seiner türki­schen Putzfrau den Lohn erhöht, weil sie immer wieder den Mist, der aus seinen Büchern quillt, wegma­chen muss
  • ein Ex-Autokanzler, der gerade entdeckt, dass wir doch davon leben können, uns gegen­seitig die Haare zu schneiden
  • ein Jude und ein Moslem, die sich gemeinsam auf die Schenkel klopfen vor Lachen, weil ein Christ immer noch einen Bischof braucht, um zu wissen, was richtig ist.

Roman­tisch, nicht? Manches klingt fast nordko­rea­nisch. Ja, echte Tabus zu brechen, erfor­dert den einzigen Mut, auf den es wirklich ankommt: den Mut, sich lächer­lich zu machen.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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