Die Widersprüche der Digitalisierungskritiker

Walter van Rossum moderierte im Herbst 2019 eine Sendung der WDR-Reihe »Gutenbergs Welt« über »digitale Ideale«. Schon gleich am Anfang behauptete er, dass es „früher“ noch einen Glauben an den Fortschritt gegeben habe, „heute aber“, wenn es ums Digitale gehe, nur Leerformeln gedroschen würden vom Anschluss, den wir nicht verlieren dürften usw. Offenbar konnte er sich keine utopischen Ziele vorstellen, die mit digitalen Techniken gelöst werden könnten. „Die Wonnen des sich selbst befüllenden Kühlschranks oder die Verheißungen des autonomen Fahrens reißen zwar niemanden vom Hocker, werden aber als Bedingungen unseres Überlebens verkauft.“ Massive Probleme der Digitalisierung würden verschwiegen. Nämlich dass bis zu 50 % der Arbeitsplätze wegrationalisiert werden könnten.

Hmm – haben „früher“ nicht Marxisten stets gejubelt, wenn uns der Fortschritt der Produktivkräfte von der Last sehr vieler Arbeit befreit hat? Bieten diese 50 % nicht die Chance, die Arbeitszeit für alle zu halbieren?

Für welches Problem ist die Digitalisierung die Lösung?

Eine Frage des Soziologen Arnim Nassehi in dem Buch »Muster«, der die Spitze der Grünen um Habeck berät. Ein akademisch verschwurbeltes Bluffbuch, sagt Paul Schreyer in »Gutenbergs Welt«. Nassehis Thesen: Digitalisierung sei nichts Neues (Karteikarten). Die heutige Form entspreche der aktuellen Komplexität. Linke Ansätze scheiterten stets an Trägheiten der Masse. Der Kapitalismus sei nicht das Problem, denn alles »müsse sich rechnen«. Die Lenkungsfunktionen der Digitalisierung seien vernünftig zu nutzen.

Ich möchte Nassehis Frage mal eben beantworten: Digitalisierung ist die Lösung für das Problem, dass mir unterwegs plötzlich ein Lied einfällt und ich den Text nicht mehr zusammenkriege. Ich gugle die Zeile, die ich kenne, und bekomme die fehlenden Zeilen geliefert. Oder für das Problem, dass ich meiner Freundin einen besonders schönen Baum zeigen will, den ich beim Wandern gerade entdeckt habe. Ich fotografiere ihn mit dem Handy und schicke ihr das Bild. Oder für das Problem, dass ich beim Radio­hören den Namen Nassehi nicht richtig verstanden habe, aber wissen will. Ich gugle „Gutenbergs Welt“ und kann ihn nachlesen, samt seinem Buchtitel, und um diese Erwiderung schreiben zu können, kann ich sogar die Sendung noch einmal digital nachhören. Oder für das Problem, dass eine Arbeitsgruppe eine dringende Entscheidung treffen will, aber ein Mitglied gerade anderswo ist. Man lässt den oder die Abwesende über eine Videokonferenz an der Diskussion und Entscheidungsfindung teilnehmen. Oder für das Problem, dass die Städte im analogen Autoverkehr ersticken und analoger Feinstaub die analogen Lungenbläschen der Stadtbewohner schädigt. Autonom fahrende kleine Elektrotaxis könnten den Straßenraum viel besser ausnutzen, würden die Staus halbieren, und man müsste nie mehr einen Parkplatz suchen. Diese Aussichten faszinieren mich sehr wohl.

Risiken: Geheimdienste, Kriege usw.

Moderator Walter van Rossum behauptete: Warum reden alle von den Chancen und der Unvermeid­lichkeit der Digitalisierung und warum redet niemand über die Risiken? Über totalitäre Geheimdienste zum Beispiel („Mielkes Stasi war ein Kindergarten gegenüber der NSA“), über Rationalisierung. An Yvonne Hofstetters Buch »Der unsichtbare Krieg« stört ihn, dass Hofstetter an Manipulationen russischer Dienste in Usa glaubt und umgekehrt nichts über die „totalitäre“ Macht der NSA sage. Er fragte sie mehrmals: „Wenn das stimmte, warum machen die Russen dann sowas, ohne erkennbare Strategie und ohne Erfolg?“ Hofstetter ist keine Politologin und konnte nicht gut antworten. Ich bin Politologe und darf kurz einspringen: Jene russischen Offiziere wollten offenbar verhindern, dass Hillary Clinton zur Präsidentin gewählt wird; und das ist ihnen gelungen. An Clinton stört diese Offiziere mutmaßlich, dass sie eher als Trump bereit wäre, sich in Menschenrechtsfragen in die russische Innenpolitik einzumischen.

Hofstetter behauptet unter anderem, die Digitalisierung vergrößere die Gefahr »hybrider Kriege«, die auf der Ebene der Computersabotage geführt werden. Ich sage: Das stimmt zwar, aber diese Ebene der Kriegs­führung gibt es schon seit Jahrhunderten: Brunnenvergiftung, Partisanenkrieg, Attentate; und der ganze Terrorismus bewegt sich auch da. Die berüchtigte »Anonymität des Internets« führe dazu, dass man nicht weiß, wer einen angreift. Ich verweise auf den Widerspruch, dass das Internet in den Bedrohungsszenarien einmal anonym und einmal gläsern und überwachend sein soll. Hofstetter würde wohl antworten: Anonym ist es für die Bösen; die Guten werden überwacht. Ich erwidere: Damit weist sie dem Werkzeug Internet menschliche Charaktereigen-schaften und Motive zu: eine böse Zange, die nur gute Nägel aus der Wand zieht. Hofstetter weiter: „… also man darf eigentlich nichts glauben, was man im Internet sieht…“ Seufz! Ja, und du darfst nichts glauben, was du im Fernsehen siehst, nichts, was du im Radio hörst, nichts, was du in der Zeitung liest, nichts, was du in Schule und Studium gelernt hast und vor allem nichts, was andere dir erzählen. Sie müssen mir nicht glauben, Herr van Rossum, aber es gibt Studien, die gezeigt haben, dass Menschen mit krankhaftem Misstrauen leichter zu betrügen sind als Menschen, die ihren Mitmenschen einen Vertrauensvorschuss geben. WDR 3: Gutenbergs Welt 9.11.2019

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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