Weihnachtliches Lob der Warenwelt

Allgegenwärtig ist die Klage über die Kommerzialisierung der Weihnachtszeit. »Schrecklich, wie kommerziell es zu Weihnachten zugeht!«, rief am 19. Dezember 2019 ein Radiomoderator in WDR 3 aus. »Da genügt schon ein Blick auf die Wunschzettel der Kinder: Sie wollen ein Eifon 13 und Gutschilatschen und ein Bättmänset von Kego.« Als Alternative propagierte er im nächsten Satz ein Weihnachtsritual, bei dem die Kinder mit hölzernen Kegeln, Würfeln und Kreiseln beglückt werden.

Früher? War mehr Lametta

Mir kommt die Idee kitschig vor und ich frage: Wo kommen denn die hölzernen Kegel, Würfel und Kreisel her? Werden die nicht gekauft? Wer bastelt so etwas denn selber? Und wenn es einer selber bastelt – braucht er dafür nicht Werkzeuge und Lacke und einen Hobbykeller, lauter Dinge, die man kaufen oder mieten muss?
Früher soll das ja anders gewesen sein. Früher war Weihnachten angeblich nicht kommerziell. Dieser These widersprach schon 1975 der gute alte Loriot, als er Opa Hoppenstedt feststellen ließ: »Früher war mehr Lametta.«
(Man beachte auch die besinnlichen NATO-Panzer im Spielzeugladen.)

Und ich widerspreche auch. Ich bin 59, und »früher«, das war in meinem Fall, sagen wir, 1970; kurz vor Hoppenstedts Weihnachten. Da wollte ich eine elektrische Eisenbahn haben und ein Kettcar und – welche Sehnsucht meiner präphallischen Träume! – ein rund 60 cm hohes Modell der Saturn-5-Rakete, das im Schaufenster eines Aachener Spielwarenladens stand, Kostenpunkt 67 DM, w.i.m.n.i. Die Eisenbahn und das Kettcar habe ich bekommen – verteilt auf zwei Weihnachtsbescherungen –, die Rakete nicht. Früher war weniger Warenwelt? Ich kann micht nicht erinnern. Du vielleicht?

Gut, dann vielleicht vor unserer Zeit – vor dem Krieg! Dazu äußerte sich der Zeitgenosse Kurt Tucholsky, Jahrgang 1890, anno 1927 wie folgt:

Ja, das möchste: / Eine Villa im Grünen mit großer Terrasse, / vorn die Ostsee, hinten die Friedrichstraße; / mit schöner Aussicht, ländlich-mondän, / vom Badezimmer ist die Zugspitze zu sehn – / aber abends zum Kino hast dus nicht weit…
Im Stall: Zwei Ponies, vier Vollbluthengste, / acht Autos, Motorrad – alles lenkste / natürlich selber – das wär ja gelacht! / Und zwischendurch gehst du auf Hochwildjagd.
Ja, und das hab ich ganz vergessen: / Prima Küche – erstes Essen – / alte Weine aus schönem Pokal – / und egalweg bleibst du dünn wie ein Aal…

<Kurt Tucholsky: Das Ideal. Vorgetragen von Harry Rowohlt>

Es scheint also schon ziemlich lange so zu sein, dass Kinder wie Erwachsene von schönen Waren träumen. Die Frage sei hier untersucht, ob das schlecht ist.

Was uns ärgert: Zwang, Hektik, Gedrängel, Gedudel…

Eine kurze Umfrage bei Bekannten: Was stört dich am Weihnachtskommerz? Antworten: die Prospekteflut im Briefkasten; der empfundene Zwang zum Schenken; die Angst, beim Schenken zu kränken; das Gedrängel in der Stadt; der Lärm; der Luxus; die Verschwendung; die Verpackungsflut; die eigene Inkonsequenz, wenn man sich vornahm, diesmal keine Geschenke zu kaufen, und es dann doch tat; aufdringliche Werbeaktionen; der süßliche Weihnachtskitsch überall; das überzuckerte Weihnachtsgedudel; der Stress am Jahresende (auch im Beruf – dieses und jenes muss noch fertig werden); die überfüllten Städte; der Überfluss; das große Umtauschen im Januar; der Stress durch die hohen Erwartungen an ein perfektes Weihnachtsfest.

Viele dieser Störfaktoren haben nur indirekt mit Kommerz zu tun, sondern bewegen sich auf der Beziehungsebene: vor allem die Schwierigkeiten beim Schenken und die übertriebenen Erwartungen ans Familienfest – psychologisch heikle Themen. Hektik und Stress am Jahresende scheinen ein jahreszeitlich bedingtes Phänomen zu sein: möglicherweise stammt das Phänomen aus der Zeit, als wir wie die Eichhörnchen vor dem strengen Frost noch schnell einen Vorrat anlegen mussten, um heil über den Winter zu kommen. Ganz ähnlich kommt es mir vor, wenn Etats unbedingt bis zum Jahresende noch ausgeschöpft, Projekte unbedingt bis zum Jahresende abgewickelt werden müssen.

Aufdringliche Werbung, Gedrängel in der Stadt, das ewige Geklimper der Jingle-Glöckchen (der Komponist, ein gewisser James Lord Pierpont, sei geteert und gefedert!), die Verschwendung, die Verpackungsflut, das große Umtauschen unbrauchbarer Geschenke… Diese Phänomene sind hingegen dem weihnachtlichen Konsum-Exzess anzurechnen. Da es offenbar ein Exzess ist, ein Ausnahmezustand, sind Kollateralschäden zu erwarten. Er treibt ein Phänomen auf die Spitze, das die ökologisch Sensiblen ohnehin umtreibt: die Produktion überflüssiger Waren auf Kosten knapper Ressourcen, von Umwelt und Klima. Es verschränkt sich mit einem sozialen Problem: die Demonstration von Wohlstand vor den Nasen vieler Menschen, die davon ausgeschlossen bleiben. An dieser Stelle ist zu ahnen, dass eine Triebkraft dabei Konkurrenzverhalten ist: das Bedürfnis, mit Geschenken, Feiern und Gelagen Eindruck zu schinden und Konkurrenten zu übertrumpfen. Sobald diese Saite angeschlagen wird, regiert schnell die Rücksichtslosigkeit, der die Reue verdientermaßen auf dem fellgestiefelten Fuße folgt.

Was ist Kommerz?

Kommerz bedeutet nichts anderes als Handel: Jemand verkauft eine Ware, und ein anderer kauft sie für Geld. Ist es nicht seltsam, dass viele diesen alltägliche Vorgang, durch den, wenn sie keine Selbstversorger* sind, fast alle Lebensmittel ins Haus kommen, und durch den viele (ich auch) ihr Geld verdienen, manchmal, etwa im Zusammenhang mit Weihnachten, negativ bewerten? Die Menschen handeln mit Waren, seit sie die Arbeitsteilung erfunden haben. Das hat den Vorteil, dass wir Dinge und Dienste bekommen, die wir unmöglich selbst herstellen oder organisieren könnten: Trinkwasser, Bücher, Porzellanteller, Schokolade, Rotwein, Telefongespräche, ärztliche Hilfe. Die Beziehungen, die wir eingehen, um an diese Dinge und Dienste zu kommen, sind, seit wir in bürgerlichen Zeiten leben, in der Regel kurzfristiger und sachlicher Natur. Genau daran entzündete sich im 19. Jahrhundert auch eine gängige konservative Zeitkritik: An die Stelle ererbter, familiär und territorial (oder, so die faschistische Parole, durch »Blut und Boden«) gegründeter Beziehungen zwischen den Menschen, so klagten sie, seien rein kommerzielle, am Geld orientierte Beziehungen getreten. Karl Marx und Friedrich Engels griffen diese konservative Kritik 1848 in ihrem »Kommunistischen Manifest« auf, um die Moralapostel des Bürgertums zu delegitimieren:

Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹. Sie hat die heiligen Schauer der frommen Schwärmerei, der ritterlichen Begeisterung, der spießbürgerlichen Wehmut in dem eiskalten Wasser egoistischer Berechnung ertränkt.

Sie haben in ihrem jugendlich-revolutionären Elan übertrieben, denn natürlich gibt es auch zwischen Kunden und Lieferanten oft zwischenmenschliche Beziehungen, die über die »gefühllose bare Zahlung« hinausgehen; es gibt dort Vertrauen, Partnerschaft, Loyalität, sogar starke emotionale Bindungen von Kunden an ihre Lieblingsmarken. Aber diese Gefühle sind nicht mehr an ererbte Familienbande und dörfliche Zwänge gebunden, sondern entwickeln sich, zumindest im Idealfall, auf der Basis bürgerlicher Gleichheit, individueller Entscheidungsfreiheit und gegenseitigen Nutzens. Dass darin auch ein demokratischer Fortschritt liegt, ist nur noch wenigen bewusst. Wo wir allerdings auf Restbestände feudalistischer Leibeigenschaft stoßen, etwa bei Saison- und Kontraktarbeitern, die gezwungen werden, in Unterkünften des Unternehmens zu hausen, bekommen wir eine Ahnung davon, was solche Zwangsverhältnisse bedeuteten und bedeuten. Dieses »Früher« war bestimmt nicht besser als das »Heutzutage«.

Aber der Konsumterror!

Kommerz mag also nicht schlimm sein – aber der Konsumwahn ist schlimm. Oder nicht?

Viele, bei denen noch Spuren der 68er-Bewegung zu finden sind, haben die Agitation gegen den »Konsumterror« im Kopf. Sie geht stark auf Theodor W. Adorno zurück, der seine scharfe Agitation gegen die »spätindustrielle, von totalitären Regimes oder Riesenkonzernen gesteuerte Massenkultur«, die die Menschen zu »bloßen Empfangsapparaten, Bezugspunkten von conditioned reflexes« herabwürdige, 1953 aus dem amerikanischen Exil mitbrachte. <Zitat aus:Der Artist als Statthalter. Nach Thomas Hecken 2019>

Heute werden wir angeblich von Amazon-, Facebook- und Google-Algorithmen manipuliert (manche machen auch Kondensstreifen verantwortlich); damals sollten es Methoden der operanten Konditionierung gewesen sein; die Vorstellung von der großen Manipulation ist nicht gerade neu.

Thomas Hecken wies in seinem Buch »Das Versagen der Intellektuellen. Eine Verteidigung des Konsums gegen seine deutschen Verächter« darauf hin, dass die Verdammung der angeblich manipulierten Masse
konservative Wurzeln hat. Mir selbst fällt eine Ähnlichkeit der linken Konsumkritik mit religiöser Askesemoral auf, wie sie u. a. von Buddhisten und Pietisten vertreten wurde. Wer auf diesem Wege selig werden will, der mag ihn gehen – und auch andere können davon lernen, dass wir vielleicht weniger stark von kaufbarem Wohlstand abhängig sind, als viele glauben.

Doch Askese bewegt sich oft am Rande eines Abgrunds namens Hochmut: Schon Martin Luther warnte vor dem Hochmut, der darin steckt, wenn Asketiker sich als die Besseren sehen und die anderen, die Verderbten, als die Schlechteren. Der gleiche Hochmut steckt in den Manipulationsgemälden: Denn über die Masse der Manipulierten erhebt sich stets eine Elite der Durchblicker, die auf unerklärliche Weise immun bleibt gegen die unwiderstehliche Macht der Reize. Dabei scheitert das Manipulationsmodell im Kapitalismus schon viel früher, nämlich an der Konkurrenz der Akteure. Facebook ist keine Botschaft, sondern ein Medium, in dem Millionen von Akteuren mit widersprüchlichen Botschaften um meine Aufmerksamkeit buhlen. Welchem davon ich mich wann zuwenden werde, weiß vorab kein Mensch, auch kein Zuckerberg. Auf jede Klick- oder gar Kaufentscheidung kommen Tausende Gelegenheiten, die ich nicht angeklickt habe. Und warum sollte das bei anderen anders sein als bei mir?

Eine andere Kritik formulierte der Psychologe Erich Fromm 1976 in seinem Beststeller »Haben oder Sein«. Er kritisierte die kapitalistische Gesellschaft deshalb, weil viele Menschen dort ihre gesellschaftliche Stellung oder gar ihre Existenzberechtigung über ihren materiellen Besitz definieren. Er kritisierte also nicht die Nützlichkeit der Dinge, sondern ihre Rolle als Statussymbole oder Prestigeobjekte. Womit wir uns dem Abgrund der eben noch gelobten Konkurrenz nähern. Einen delikaten Rotwein zu besitzen und zu genießen – was sollte schlimm daran sein? Diesen Besitz zu benutzen, um sich eine höhere Stellung unter seinen Mitmenschen anzumaßen – da wird es kritisch, denke ich.

Lob der Warenästhetik

In der Tat haben mehrere der von mir Befragten ihre Konsumkritik sogleich im nächsten Satz relativiert: „Verflucht sei der Luxus! Aber einen Metaxa habe ich mir heute doch geleistet. Ein Luxus, der nicht sein müsste, vielleicht sogar schadet, aber… er schmeckt so verteufelt gut!“ – „Saublöd, dieses zwanghafte Schenken! Aber es gibt auch die Freude an der guten Geschenkidee, die man für jemanden hatte, und die Freude an bekommenen Geschenken…“

Das Beispiel des Weinbrands verweist auf einen wichtigen Aspekt: die Warenästhetik als Bestandteil von Lebensqualität. Ein Leben, in dem Speise und Trank gut schmecken, gewährt uns Freuden, die ein Leben, in dem sie schlecht schmecken oder sehr knapp sind, nicht zu bieten hat. Wer wären wir, diese Freuden irgend jemandem nicht zu gönnen? Dieser Kontrast fiel mir 1981 zum ersten Mal auf, als ich die DDR bereiste und mir dort eine Tube Rasierseife kaufte, die erstaunlich grau, rau und kratzig war. Da unsere gewohnte Warenästhetik häufig in der Konkurrenz von Waren entstanden ist, stoßen wir hier vielleicht wieder auf einen positiven Aspekt der Konkurrenz.

Hier allerdings lauert auch die von mehreren Befragten beklagte aufdringliche Werbung – in der Tat eine Geißel des Kommerzes. Als Werber habe ich stets versucht, solche Werbung zu vermeiden. Intelligente Werbung sollte erst dann als Vorschlag auf den Plan treten, wenn jemand wirklich eine Lösung für ein Problem sucht – so wie Rat und Wissen auf den Plan treten, sobald jemand Antwort auf eine Frage sucht. Außerhalb solcher Situationen sollte Werbung unsichtbar und unhörbar bleiben.

Heinrich Heine bejubelte eine Zukunft, die »Zuckererbsen für Jedermann« bringen sollte – »sobald die Schoten platzen«. Und Bertolt Brecht sah im Gemecker über schlechtes Essen und dem Wunsch nach gutem Essen sogar eine revolutionäre Kraft. In seinem »Lob des Revolutionärs« sagt er:

Wo er sich zu Tisch setzt / Setzt sich die Unzufriedenheit an den Tisch / Das Essen wird schlecht / Und als eng wird erkannt die Kammer.

Wie angenehm hebt sich diese Haltung gegen die menschenfeindliche Askesemoral eines Andreas Baader ab, der in Menschen, die ein Kaufhaus besuchen, seine persönlichen Feinde sah!

Kritik der Statuskonkurrenz und des Wachstumswahns

Es nützt so wenig, uns gegenseitig wegen unserer Neigung zu geißeln, Dinge zu konsumieren, die unser Leben angenehmer gestalten! Niemand wird wirklich damit aufhören, so dass wir, wenn wir dieser Leiher folgen, alle stets arme Sünderlein bleiben, denen nichts anderes übrig bleibt, als auf den Heiland zu warten, der ihnen gnädigerweise die Himmelspforte aufschließt. Für diesen Aspekt der weihnachtlichen Besinnlichkeit scheint mir das Frömmigkeitsgen zu fehlen. Es erscheint mir nützlicher, die Kritik auf Aspekte zu konzentrieren, die wir hoffentlich wirklich ändern können: die Konkurrenz um sozialen Status (siehe Fromm) und die pubertäre Idiotie des Schneller-Größer-Stärker-Mehr. Diese Aufgaben sind groß genug. Erstere hört auf, sobald wir alle Mitmenschen achten – jeden einzelnen schon deshalb, weil er oder sie eine eigene Lebenserfahrung und eigene Ideen hat, also etwas weiß, was andere noch nicht wissen. Letztere hört auf, sobald wir merken, dass wir erwachsen sind und nicht mehr weiter wachsen müssen. In der Tat: Wir sind älter geworden, wir brauchen nicht mehr, wir brauchen eher weniger als letztes Jahr; die Schränke und Regale sind voll.

Zeit, von der Fixierung auf stoffliche Waren wegzukommen und sich stattdessen mehr für einmalige Ereignisse zu interessieren: Begegnungen, Erkenntnisse, genussvolle Restaurantbesuche, anregende Theateraufführungen, mitreißende Konzerte, erholsame Wellnesstage. Vieles davon kann man als Dienstleistung kaufen und stiftet im Moment des Verbrauchs Lebensfreude. Solche Dienstleistungen brauchen in der Regel weniger Ressourcen und nehmen weniger Platz weg als Autos, Häuser, Möbel, Kleidung usw. Und da das Zeitbudget der Kunden begrenzt ist, können sie nicht ins Maßlose ausgedehnt werden.

Jens Jürgen Korff, Dezember 2019

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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