Der Literaturhistoriker Gunnar Decker, Autor einer Biografie des ostdeutschen Schriftstellers und Kommunisten Franz Fühmann, würdigte die Rolle Fühmanns zu seinem 100. Geburtstag. Fühmann verteidigte in den 1970er Jahren in der DDR die Tradition der deutschen Romantik gegen ihre Gegner, darunter Peter Hacks.
Bis 1968 schrieb Fühmann »schnell und leicht, auch gute Sachen wie Kameraden über den falschen Treuebegriff der Wehrmachtssoldaten oder die Abrechnung mit seiner Verblendung als Nazijunge in Das Judenauto, auch die sich expressiv steigernde Werftreportage Kabelkran und Blauer Peter« (Decker). Mit der Erzählung Barlach in Güstrow löste er eine Barlach-Renaissance in der DDR aus. Doch dann, entsetzt über die Niederschlagung des Prager Frühlings, widmete er sich den dunkleren Gefilden seines Lieblingsdichters Georg Trakl und seines Lieblingsromantikers Ernst Theodor Hoffmann, vor allem den von Hoffmann beschworenen düsteren Gespenstern. Er bearbeitete den Hoffmann-Stoff Das Bergwerk von Falun, das ihn wohl auch zu seinem unvollendeten Mammutwerk Im Berg anregte. Januar 1976 forderte er in einer Rede vor der Akademie der Künste einen neuen Begriff der Romantik, der die Unterwelt der Dämonen, Trolle und Hexen einbeziehen solle. Er begründete das damit, dass Hoffmann der Lieblingsschriftsteller Karl Marx‘ gewesen sei, und dass das berühmte »Gespenst des Kommunismus« im Vorwort des Kommunistischen Manifests seiner Hoffmann-Lektüre entsprungen sei. 1982 erschien nach langen internen Kämpfen Fühmanns Trakl-Essay Vor Feuerschlünden – Erfahrungen mit Trakls Gedicht, der 1985 in Westdeutschland unter dem verfälschenden Titel Der Sturz des Engels nachgedruckt wurde.
Fühmanns proromantische Plädoyers stießen in der DDR zum Teil auf scharfen Widerspruch, so etwa bei Peter Hacks, der Fühmanns Rede als versuchten Staatsstreich einer Fronde der Romantiker denunzierte. Mit großer Spannung habe ich von dem tiefgründigen Streit zwischen Pro- und Antiromantikern in der DDR gelesen. Zu den Antiromantikern gehörte bekanntlich Brecht („Glotzt nicht so romantisch!“). Außerdem ist das Ressentiment gegen die Romantik (oder der Spott über die Romantik) eine deutsch-jüdische Tradition, die sich z. B. bei Victor Klemperer nachlesen lässt, oder schon bei Heine (Die romantische Schule). Mir fiel bei der Lektüre des Artikels ein, dass ich zwei Klassiker der Romantik bzw. der Neoromantik, Wilhelm Hauffs Märchen und den Roman Momo von Michael Ende, ausgerechnet in der DDR gekauft habe, als DDR-Ausgaben. Ob es wohl um die Veröffentlichung von Momo eine interne Debatte gab, bei der diese Frontlinie eine Rolle spielte? Angeblich wurde das Buch in der DDR-Ausgabe etwas gekürzt. Die Frage melde ich als Desiderat an.
Gunnar Decker: Mit ernster Fantasie. Franz Fühmann … der Freitag 27.1.2022