Der neue Alte Fritz und sein Kriegsregime

Aus linken Kreisen höre ich die Klage über die »Heuchelei des Westens«, wie er sich überschlage in Empörung über die Kriegs­ver­bre­chen des Moskauer Raketen­wer­fers in der Ukraine, aber doch immer geschwiegen habe über usami­sche Kriegs­ver­bre­chen in Vietnam, über die katastro­phalen Folgen der Inter­ven­tion in Libyen usw. Diese Klage ist vor allem ein Armuts­zeugnis derje­nigen, die sie äußern; sie ist nicht souverän, schlecht durch­dacht und außerdem stillos. Ich versuche also eine alter­na­tive Analyse des Putin-Regimes und habe einen konkreten Vorschlag, um den Ukrai­ne­krieg zu beenden.

Nicht souverän: Statt einen eigenen Stand­punkt zu suchen, beschränken sich jene Linken, z. B. manche Autoren der NachDenk­Seiten und der Jungen Welt, darauf, die Stand­punkte anderer Leute zu spiegeln und billig zu delegi­ti­mieren. Ich kenne die Methode von Alois Mertes, Annemarie Renger und Jürgen Mölle­mann, die am 10. Oktober 1981 ein Flugzeug über Bonn kreisen ließen mit der Parole: »Und wer demons­triert in Moskau?« Jemand sagt etwas zum Thema A; der Gegner sagt: »Und was sagst du zu Thema B?« Die Logik dieses Prinzips, neuer­dings Whatbou­tism (Undwa­sist­mitismus) genannt, bedeutet praktisch: Wer den Regen­wald in Brasi­lien nicht gerettet hat, muss auch hinnehmen, dass die alte Linde im Nachbar­garten gefällt wird.

Schlecht durch­dacht, denn es wird umgekehrt ein Schuh daraus: Wenn der Vietnam­krieg imperia­lis­tisch war und der russi­sche Krieg in der Ukraine so etwas ist wie der Vietnam­krieg, dann bedeutet das, dass dieser Krieg imperia­lis­tisch ist. Doch wo bleibt die Fortschrei­bung von Lenins Imperia­lis­mus­theorie, angewandt auf die Kriegs- und Macht­spiele der Herren- und Jäger­runde im Kreml? Die Aufgabe ist nicht einfach, denn es scheint derzeit in Russland keine bedeu­tenden kapita­lis­ti­schen Konzern­in­ter­essen zu geben, die für den Krieg sprechen. Im Gegen­teil: Gasprom und andere russi­sche Rohstoff­kon­zerne leiden erheb­lich unter dem Krieg und den vom Krieg ausge­lösten Sank¬tionen, wahrschein­lich sogar mit nachhal­tiger Wirkung. Offenbar wurde die russi­sche Staats­füh­rung von anderen als kapita­lis­ti­schen Inter­essen auf diesen verbre­che­ri­schen Irrweg geführt.

Stillos, denn dieses Gequengel erinnert mich an den Dieb, der sich über seine Festnahme beklagt mit dem Hinweis, dass deser oder jener Klepto­krat doch frei herum­laufe. Doch ich höre dazu auch Männer in Nürnberg rufen: »Nicht schuldig!« (Das ist kein Naziver­gleich, nur eine freie Assozia­tion, eine künst­le­ri­sche Inspi­ra­tion. Ich bitte um Verzei­hung.)

Ein nationalkonservativ-militaristisches Régime

Wir stehen in Russland einem natio­nal­kon­ser­vativ-milita­ris­ti­schen Régime gegen­über, das sich mit einer aus der Zeit gefal­lenen Bruta­lität über Menschen­rechte, Leib und Leben von Tausenden Mitmen­schen hinweg­setzt, mit Begrün­dungen und Parolen, die große Ähnlich­keit haben mit Parolen deutsch­na­tio­naler Histo­riker und Antise­miten des späten 19. Jahrhun­derts vom Schlage eines Heinrich von Treit­schke oder eines Julius Langbehn. Treten uns Linken solche Regimes in anderen Ländern gegen­über – in der Türkei, in Ungarn, in Brasi­lien –, dann bestreitet niemand, dass wir sie bekämpfen müssen. Tritt aber ein solches Régime in Russland auf, dann neigen wir spontan dazu, es zu vertei­digen. Ich sage hier ganz bewusst »Wir«, weil ich diese Tendenz in mir selber kenne und beobachtet habe, auch noch bei Beginn des aktuellen Krieges. Außerdem ist das Bekämpfen im Fall Russland objektiv schwierig, da Russland eine Atommacht ist. Ein bisschen Analyse dazu, um meine Einschät­zung zu unter­mauern:

Natio­na­lis­tisch: Das P‑Régime verherr­licht eine angeb­lich urrus­si­sche Mission, ein Bollwerk gegen die »Dekadenz« des liberalen »Westens« zu bilden, gegen die »Flut« von Holly­wood, Feminismus, Schwu­lentum, Schwar­zen­kult, Veganismus, Tierschüt­zerei, dieses ganze männer­feind­liche, arbei­ter­feind­liche, verweich­li­chende Gedöns. Diese Strömung schlägt bei manchen Linken Saiten des Kampfes gegen den »Kultur­im­pe­ria­lismus« und des Prolet­kults an. Der russi­sche Philo­soph und Ideen­geber Alexander Dugin vertritt das Konzept eines »eurasi­schen Kultur­raums«, der sich unter Führung Russlands gegen den usami­schen Kultur­raum behaupten solle. Dabei knüpft er, wie Micha Brumlik analy­sierte, an die geopo­li­tisch-faschis­ti­schen Geschichts­phi­lo­so­phien Martin Heideg­gers, Julius Evolas und Oswald Speng­lers an.

Konser­vativ: Im Bündnis mit Teilen der russisch-ortho­doxen Kirche verherr­li­chen die Putinisten über-kommene Herrschafts­ver­hält­nisse und Hierar­chien des 18. und 19. Jahrhun­derts und versu­chen, deren Überbleibsel zu bewahren oder zu restau­rieren. Als noch der Gutsherr über seine Leibei­genen gebot, als der Offizier die »Mannes­zucht« in seiner Kompanie aufrecht erhielt, als der strenge Patri­arch Zucht und Ordnung auf dem Hof und in der Familie mit gewäs­serten Weiden­gerten gegen aufbe­geh­rende Jugend­lich­keit durch­setzte – eindrück­lich geschil­dert von Maxim Gorki in seinem Buch »Meine Kindheit« –, als Frauen noch in allen öffent­li­chen Dingen zu schweigen hatten, da war ihre Welt in Ordnung, da wollen sie wieder hin. Der italie­ni­sche Philo­soph und Faschist Julius Evola (1898–1974) sagte: Nur in strengen, gewaltsam aufrecht erhal­tenen Rangord­nungen erweise sich die Rückbin­dung einer Gesell­schaft an die Sphäre des Heiligen. Dugin greift in Russland diesen Gedanken auf. Dazu gehören äußerst rigide Vorstel­lungen von einem patri­ar­cha­lisch geord­neten, anstän­digen Famili­en­leben. (Dazu DLF 2017)

Milita­ris­tisch: Einen hemmungs­losen Kult des Militä­ri­schen, der Waffen­ge­walt, der Rituale des Befehls und Gehor­sams, der angeb­li­chen Ehre der Bewaff­neten gab es bereits in der Sowjet­union und ist aus der Geschichte des »Großen Vater­län­di­schen Krieges« 1941–45 verständ­lich. Schon die von Stalin geprägte Bezeich­nung des Krieges ist milita­ris­tisch: Sie verdeckt die Große Mensch­liche Trauer um die 50 Millionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen, durch »großar­tige» Militär­pa­raden, die Präsen­ta­tion »großar­tiger« Waffen, durch Stolz auf gewal­tige, gewalt­same Taten. Sie verdeckt das Mensch­heits­ver­bre­chen, die mensch­heit­liche Katastrophe dieses Krieges durch den engen Blick­winkel des ruchlos überfal­lenen »Vater­landes«. Das ist vom Täter­land westlich der Oder aus kaum zu kriti­sieren. Die Kritik sollten wir Vertre­tern anderer Länder überlassen, die 1939–45 ähnliche Schick­sale erleiden mussten wie die Sowjet­union: Polen, Belgien, die Nieder­lande, Luxem­burg, Dänemark, Norwegen, Jugosla­wien, Griechen­land, Litauen, Lettland, Estland. Oder auch der Ukraine als dem anderen Nachfol­ge­staat. Uns Deutschen, und speziell uns deutschen Linken und Pazifisten, mag diese Aufzäh­lung als Krücke dienen, um aus der Sackgasse heraus­zu­finden, in der der sowje­ti­sche Milita­rismus die einzig mögliche Antwort auf das Trauma eines faschis­ti­schen Überfalls zu sein scheint.

Umgewan­delt in einen natio­nal­rus­si­schen Milita­rismus, begeg­nete er uns 1999–2009 beim Zweiten Tsche­tsche­ni­en­krieg, der dem damaligen Minis­ter­prä­si­denten Putin 2000 zum ersten Sieg bei einer Präsi­dent­schafts­wahl verhalf. Obwohl dieser Krieg von dem tsche­tsche­ni­schen Terro­ris­ten­führer Bassajew ausge­löst worden war, zielte der russi­sche Feldzug nicht auf Bassajew ab, sondern auf die von Aslan Maschadow geführte, vergleichs­weise gemäßigte Regie­rung in Grosny, jenen Maschadow also, mit dem Putins klügerer Vorgänger Jelzin 1996 noch einen Friedens­kom­pro­miss gefunden hatte. Diesmal kam es den russi­schen Milita­risten darauf an, die »Gefahr« eines Friedens­schlusses im Keim zu ersti­cken, um, koste es, was es wolle, das Land vollständig mit Waffen­ge­walt unter­werfen zu können. Schon dieser Krieg russi­scher Milita­risten hatte starke Ähnlich­keitkeiten mit der schlimmsten Phase des Vietnam­kriegs gehabt, als usami­sche Milita­risten ein kleines Land in Südost­asien in die Stein­zeit zurück­bomben wollten, um es für seine Wider­stän­dig­keit zu bestrafen. Zwei wichtige Unter­schiede sollen jedoch nicht unter den Tisch fallen: Von Vietnam waren keine terro­ris­ti­schen Angriffe auf Nachbar­länder oder auslän­di­sche Metro­polen ausge­gangen. Anderer­seits hatte sich die Weltge­schichte seit dem Vietnam­krieg weiter­ent­wi­ckelt, weg von brutalen Erobe­rungs­kriegen im Stil des 18. und 19. Jahrhun­derts. Die Weltge­schichte, nicht jedoch die russi­sche.

Zar Wladimir und der Siebenjährige Krieg

Gleich­set­zungen mit Hitler und dem II. Weltkrieg sind immer falsch und verbieten sich beson­ders in Deutsch­land gegen­über einem Land, das damals im Zentrum deutscher Herrsch­sucht und deutscher Mordtaten stand. Zum Glück bietet die europäi­sche Geschichte genug anderes Vergleichs­ma­te­rial. Der russi­sche Liberale Wladimir Ryschkow sagte 2015 in einem Inter­view mit dem ZDF-Korre­spon­denten Dietmar Schumann, Putin denke in den Katego­rien des 19. Jahrhun­derts. Am liebsten wäre ihm ein neuer Wiener Kongress, auf dem sich die Großmächte, darunter Zar Alexander I. von Russland, 1815 darüber einigten, wie sie die Länder und Völker Europas unter­ein­ander aufteilen konnten. Zumin­dest bis zum nächsten Revolu­ti­ons­jahr 1830 hielt das Konstrukt.

Eine vielleicht besser treffende Spur führt ins 18. Jahrhun­dert zurück. Am 1. September 2021 hielt Putin vor Schüle­rinnen und Schülern in Wladi­wostok einen Vortrag über russi­sche Geschichte und bezog sich positiv auf Zar Peter I., der 1700 in den Großen Nordi­schen Krieg gegen Schweden einge­treten war, um russi­sche Seehan­dels­wege in der Ostsee durch­zu­setzen. Dabei unter­lief Putin ein mögli­cher­weise Freud­scher Fehler: Er verwech­selte den Großen Nordi­schen Krieg, der 21 Jahre dauerte, mit dem Sieben­jäh­rigen Krieg, den König Fried­rich II. von Preußen 1756 mit einem heimtü­cki­schen Überfall auf Sachsen einlei­tete. Durch die Presse ging die Anekdote, dass Putin öffent­lich von einem Schüler korri­giert wurde. Vielleicht verriet Putin damals, in wessen Fußstapfen er sich treten sah: in die des großen Kriegs­trei­bers von Sanssouci, der sich 1756 für unbesiegbar hielt, weil seine Herrsch­sucht, seine brutale Entschlos­sen­heit und seine Risiko­be­reit­schaft vermeint­lich dem vorsich­tigen Lavieren der ihn umgebenden Monar­chen haushoch überlegen waren. Ganz Ähnli­ches wurde über Putins Habitus und Selbst­in­sze­nie­rung bei Beginn des Ukrai­ne­krieges berichtet. Fried­rich II. provo­zierte damals die erste russi­sche Beset­zung von Berlin und überlebte seinen Größen­wahn nur mit so viel Glück, dass er selbst von einem »Mirakel des Hauses Branden­burg« sprach.

Auf eine weitere Paral­lele zum preußi­schen Milita­rismus wies Ute Scheub kurz nach Kriegs­aus­bruch in einem Essay über Putins toxischen Männlich­keits­kult hin: die berüch­tigte Dedowtschina im russi­schen Militär, ein infor­melles sadis­ti­sches System von Drill und Folter, das ältere Soldaten, sog. Großväter, an Rekruten und jungen Soldaten verüben und das jährlich bis zu 3000 junge Männer in den Suizid treiben soll. Sie hat große Ähnlich­keiten mit dem mörde­ri­schen Prügel­drill im preußi­schen Militär, der seit den Zeiten des »Solda­ten­kö­nigs« (Fried­richs II. Vater Fried­rich Wilhelm I.) das Leben in Preußen vergif­tete.

Was tun? Karibik für die Deserteure!

Die zentrale Rolle, die russi­sches Solda­tentum in dieser Tragödie spielt, diktiert mögli­cher­weise auch ein wirksames Gegen­mittel. Der ukrai­ni­sche Präsi­dent Wolodymyr Selen­skyj hat es in einer seiner Reden an die russi­schen Soldaten bereits angedeutet: Allen russi­schen Soldaten, die sich in ukrai­ni­sche Gefan­gen­schaft begeben, hat er eine ehren­volle Behand­lung zugesi­chert. Der Berliner Histo­riker Jörg Baberowski erwähnte Putins Risiko, dass der entfes­selte Krieg zur massen­haften Deser­tion russi­scher Soldaten führen und so ein von unten erzwun­genes klägli­ches Ende finden könne. Das gezielt auszu­lösen, könnte eine wirksame Waffe gegen das angrei­fende Militär sein, die anders als übliche Waffen die Gefahr eines Atomkrieges umgeht.

Das erscheint derzeit unwahr­schein­lich, weil russi­sche Soldaten um die Verbre­chen wissen, die sie in der Ukraine begangen haben, und deshalb kaum darauf vertrauen können, als Gefan­gene von den Ukrai­nern gut behan­delt zu werden. Zumal Selen­skyj in anderen Reden auch immer wieder angekün­digt hat, er wolle alle Schul­digen zur Rechen­schaft ziehen. Dazu kommt die Gefahr, dass russi­sche Gefan­gene in der Ukraine später von siegrei­chen russi­schen Truppen zurück­ge­holt und dann auch in Russland als Verräter verfolgt werden könnten. Wer die Seite wechselt, droht derzeit also zum Paria beider Seiten zu werden. So wird das nichts.

Deshalb ist inter­na­tio­nale Hilfe und eine ausge­klü­gelte Logistik vonnöten. Russi­sche Deser­teure müssen schnell geortet, schnell aus der Reich­weite ihrer Truppen entfernt, von inter­na­tio­nalen Organi­sa­tionen außer Landes geholt und so aus der Gefah­ren­zone gebracht werden. Um ihnen den schwie­rigen und moralisch belas­teten Schritt einer Deser­tion zu erleich­tern, muss das Angebot verlo­ckend genug sein. Ein Inter­nie­rungs­lager à la Guanta­namo ist keine verlo­ckende Perspek­tive. Verlo­ckend wären Kreuz­fahrt­schiffe, die die Gefan­genen als Luxus­pas­sa­giere aufnehmen und in die Karibik oder nach Kambo­dscha entführen. Das würde ein bisschen Geld kosten. Schät­zungs­weise ein Zehntel des Geldes, das Waffen für die ukrai­ni­sche Armee kosten, und es wäre wahrschein­lich zehnmal so wirksam wie diese Waffen. Denn es genügt wahrschein­lich eine kleine Anzahl geret­teter Soldaten, dann müssen die russi­schen Generäle ihre Soldaten kaser­nieren, um die Kontrolle über sie zu behalten, und können sie nicht mehr ins Feld hinaus­schi­cken. Sie müssten ihren Krieg beenden.

Was hindert uns daran, so zu verfahren? Unser eigener Milita­rismus, unsere eigenen Gottheiten Befehl und Gehorsam, deren Autorität unter­graben werden könnte. Und unser verfluchter Gerech­tig­keits-Fanatismus, der Glaube, alle Verbre­cher müssten unbedingt bestraft werden wie am Ende eines anstän­digen Holly­wood-Märchens. Ob wir diese Hemmnisse überwinden können?

Presseschau

Thomas Willms, Bundes­ge­schäfts­führer der VVN-BdA, kam in der Verbands­zei­tung »antifa« (Mai/​Juni 2022) zu einigen Schluss­fol­ge­rungen, die meine Einschät­zung der Positionen Putins und der Lage Russlands bestä­tigen:

  • „Es ist eine Argumen­ta­tion mit Stalin gegen Lenin, der überhaupt Russland verraten habe.“
  • „Ein weiteres ideolo­gi­sches Konstrukt … die »Geopo­litik«: Es wird so getan, als gäbe es eine Art Einmal­eins der politi­schen Geografie, nach der der vorwärts­krie­chenden NATO nun einmal irgend­wann mit Gewalt begegnet werden müsse. Es scheint ganz vergessen zu sein, dass diese Denkschule als Pseudo­wis­sen­schaft des imperia­lis­ti­schen Deutsch­lands des Ersten und Zweiten Weltkriegs entwi­ckelt wurde…“
  • Es gibt keinen anderen Staat, „für den der waffen­ex­port eine so heraus­ra­gende Rolle als Wirtschafts­kon­zept spielt“ wie Russland.
  • „Die harte Wahrheit ist, dass der Westen, insbe­son­dere die USA, Russland nach 1991 gerade nicht als »Haupt­feind« betrach­teten, sondern als besiegte Macht von gestern, die man getrost ignorieren kann. So kam aus Sicht der russi­schen Führung, zum imperialen Phantom­schmerz auch noch die Belei­di­gung.“
  • „Wo »toxische Männlich­keit« zur Staats­räson gehört, liegt die Lebens­er­war­tung von Männern bei 65 Jahren; wo alle Macht sich im Zentrum konzen­triert, verfällt u. a. das Gesund­heits­wesen im weiten Land…“
  • Das „ist ein Krieg wie aus dem 18. Jahrhun­dert, wie ihn Fried­rich II. 1756 gegen Öster­reich führte. Fried­rich wollte die Provinz Schle­sien haben, um damit seinem Reich Unter­tanen, »Kornkam­mern« und »Erzbe­cken« einzu­ver­leiben. Genau das will Putin in der Ukraine auch.“
  • „»TOS‑1« Raketen­ar­til­lerie mit thermo­ba­ri­schen (kriegs­recht­lich verbo­tenen) Spreng­köpfen, die alles töten, was eine Lunge hat. Wie bei sämtli­chen russi­schen Armeen der Jahrhun­derte zuvor ist das Leben eines russi­schen Soldaten wenig wert.“
  • „So ausge­rüstet und von einer arroganten Offiziers­kaste angeleitet, führen sie einen Krieg wie im Mittel­alter: Städte werden belagert und ausge­hun­gert; Kirchen, Schulen, Kranken­häuser, Wohnge­biete in Schutt und Asche gelegt. Erst wird völlig zerstört, dann besetzt.“
  • „Selbst wenn die russi­sche Armee die ihr gesetzten militä­ri­schen Ziele errei­chen sollte, sind die politi­schen schon jetzt verloren… Das gegne­ri­sche, in Wirklich­keit lange dahin­düm­pelnde, NATO-Bündnis ist wachge­treten worden wie ein böser Hund. Die Existenz­grund­lage der russisch­spra­chigen Bevöl­ke­rung im Osten des Landes ist durch russi­sche Bomben zerstört. (…) Besetzte ukrai­ni­sche Gebiete werden den russi­schen Staat verwesen lassen wie eine eiternde Wunde. Zehntau­sende junger Russen werden sterben, hundert­tau­sende um ihre Zukunft betro­gene junge Menschen aus dem Land flüchten.“

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

5 Gedanken zu „Der neue Alte Fritz und sein Kriegsregime“

  1. Danke für deine beein­dru­ckende Analyse mit so vielen histo­ri­schen Hinter­gründen. Dein Lösungs­vor­schlag klingt zunächst verlo­ckend, ist in meinen Augen aber zu kurz gedacht. Was soll zukünftig passieren mit Deser­teuren in einem Karibik­staat? Wie lange sollen sie sich dort verste­cken, ohne ihre Familien und wer soll sie womög­lich jahre­lang „aushalten“?? Außerdem würde man damit verbre­che­ri­sches, menschen­ver­ach­tendes Handeln „belohnen“, was auch niemand verstehen würde. Soldaten, die ihre eigenen Frauen anrufen, um sich die Legiti­ma­tion für die Verge­wal­ti­gung ukrai­ni­scher Frauen abzuholen, meinen doch immer noch, das Richtige zu tun! Die lockt man nicht mit einem Kreuz­fahrt­schiff in die Karibik. Leider.
    Und natür­lich ist jede Idee diskus­si­ons­würdig, die zum Ende dieses absurden Krieges führen könnte.

  2. Danke für das Lob. Die Deser­teure müssen ggf. zwei, drei Jahre lang versorgt werden. Bezahlt wird das aus den Rüstungs­haus­halten, da, wo man gerade 100 Mrd € herbei­zau­bert. Es kostet, sagen wir, 50 Mio €, das wären 0,05 % der genannten Summe.
    Jenseits der Kriegs­pro­pa­ganda, die natür­lich die extremsten Einzel­fälle sofort auf alle Feinde verall­ge­mei­nert, werden russi­sche Soldaten sehr verschie­dene Menschen sein. Nicht alle kommen als poten­zi­elle Deser­teure in Frage: glühende Regime­an­hänger ebenso wenig wie Männer mit starken familiären und heimat­li­chen Bindungen, die sich nicht trennen wollen. Errei­chen kann man wahrschein­lich zwei sehr unter­schied­liche Gruppen: Leute, die den Krieg und die Verbre­chen zum Kotzen finden und so schnell wie möglich da rauswollen, und Abenteu­rer­typen ohne Bindungen, die den dreckigen Kriegs­ruhm gerne mal mit einem Luxus­leben eintau­schen. Man muss beide Gruppen unter­schied­lich anspre­chen und ihnen unter­schied­liche Perspek­tiven anbieten – ersteren nämlich eher eine aktive Mitwir­kung beim Beenden des Krieges, also bei Anti-Kriegs-Propa­ganda, die nach Russland hinein­ge­sendet wird.
    In jedem Fall tritt die eigent­liche Wirkung dadurch ein, dass die Generäle ihre verblie­benen Soldaten in Kasernen sperren, um nicht die Kontrolle über sie zu verlieren. Das zwingt sie, die Feldzüge abzubre­chen und sich zurück­ziehen.
    Der Einwand mit dem Belohnen von Kriegs­ver­bre­chern ist wahrschein­lich das größte Hindernis auf unserer Seite. Er ist irrefüh­rend, denn wir belohnen nicht die Kriegs­ver­bre­chen, sondern das Beenden von Kriegs­ver­bre­chen. Belohnt wird, wer mit der Scheiße aufhört. Reuige Sünder also – eigent­lich ein im Chris­tentum wurzelnder Gedanke. Von daher könnten Kirchen, Misereor, Brot für die Welt, Malteser, Johan­niter usw. die Träger der Aktion sein.

  3. Vielen Dank für diesen Beitrag. Du setzt Impulse, die sonst nicht oder kaum zu erlangen sind.

    Auf meiner Oster­marsch­rede bin ich ebenfalls darauf einge­gangen, dass Linke eine klamm­heim­liche Sympa­thie mit Putin pflegten und sich von Russland enttäuscht fühlten. Ich habe so begonnen:

    “Das hätte keine/​r von uns erwartet: Die russi­schen Panzer werden von den Urenkeln der Frauen und Männer gesteuert, die gemeinsam mit ihren ukrai­ni­schen Kampf­ge­fährten unter unvor­stell­baren Opfern die Sowjet­union vertei­digten, die Hitler-Wehrmacht nieder­rangen und Europa vom Faschismus befreiten.
    Das hätte keine/​r von uns erwartet: Dieses mal sollten die US-Geheim­dienste Recht behalten mit den Warnungen vor dem russi­schen Angriff, nachdem Russland dieses wochen­lang bestritten hatte. Der Wortbruch Russlands löst große Ängste und Verun­si­che­rungen über seine Glaub­wür­dig­keit aus.”

    Diesem Beitrag kann ich zustimmen, zumin­dest dem geschrie­benen Teil. Ein Mangel ist jedoch, was nicht erwähnt ist, nämlich das vielfache harte Heran­rü­cken an die russi­schen Grenzen durch die NATO. Denn vor allem diese Vorge­schichte, und nicht etwa Putins Geschichts­ver­ständnis, kennzeichnet den geopo­li­ti­schen Konflikt, den die USA (und im Gefolge EU u. BRD) gegen Russland und China vom Zaun gebro­chen haben, um ihre Hegemo­ni­al­stel­lung zu vertei­digen. Das recht­fer­tigt den Krieg um die Ukraine nicht, aber nur in diesem Zusam­men­hang ist er politisch einzu­ordnen.

    1. Danke fürs Lob! Natür­lich fehlt in meinem Artikel ganz viel; die Ukraine zum Beispiel und, vor allem, die aktuelle Atomkriegs­ge­fahr (ich werde den Hinweis an einer Stelle ergänzen). Mein Beitrag soll nicht die Weltlage erklären, sondern einen Aspekt des russi­schen Angriffs­krieges, der das Verhältnis deutscher Linker zu Russland tangiert. Um die geopo­li­ti­sche Situa­tion einzu­schätzen, ist es m. E. zu früh. Ob wirklich die gefühlte Einkrei­sung durch die NATO für Putin entschei­dend war, den Krieg zu beginnen – wir wissen es noch nicht. Wollten Usa und EU ihre Hegemo­ni­al­stel­lung gegen Russland vertei­digen? War diese Stellung denn durch Russland bedroht? Das ist mir nicht aufge­fallen, jeden­falls nicht in der Zeit nach Gorbat­schow. Schlüs­siger erscheint mir die Erklä­rung, dass die Teilhe­ge­monie des Putin-Regimes durch die Entwick­lung in der Ukraine bedroht war. Steckt in der Art und Weise, wie wir osteu­ro­päi­sche Akteure routi­ne­mäßig zu Mario­netten des US-Imperia­lismus erklärt haben – ganz ähnlich, wie unsere deutschen Gegner sie früher zu Mario­netten des Sowjet-Imperia­lismus erklärt haben – eine große Portion Überheb­lich­keit? Vielleicht sogar eine im Grunde deutsch- oder russisch­na­tio­nale Überheb­lich­keit im Lenin­kostüm?

  4. Vielem kann ich zustimmen, z. B. der Kritik an Autoren der sogenannten „Nachdenk­seiten“, die den russi­schen Angriffs­krieg gegen die Ukraine relati­vieren oder beschö­nigen wollen. Die ausführ­liche Beschrei­bung der ideolo­gi­schen Grund­lagen des despo­ti­schen russi­schen Regimes unter Putin, ob Jelzin wirklich „schlauer“ war, darüber kann man geteilter Meinung sein, finde ich gut getroffen. Sämtliche Schand­taten des natio­na­lis­ti­schen russi­schen Regimes können mir aber den völki­schen ukrai­ni­schen Natio­na­lismus, den uns u. a. Herr Melnyk eindrucks­voll vor Augen führt, nicht sympa­thi­scher machen. Ich mag mich daher nicht auf die Seite der ukrai­ni­schen Regie­rung schlagen. Dafür gleichen sich m. E. die wie Kanonen gegen­ein­ander in Stellung gebrachten Narra­tive von Blut und Boden viel zu sehr.

    Kein Beispiel nehmen sollten wir uns auch an manchen Politiker:innen der Grünen, die sich gebärden als wollten sie am liebsten gegen Russland in den heiligen Krieg ziehen und für die es keine Rolle zu spielen scheint, ob die Situa­tion außer­halb jegli­cher Kontrolle gerät und in einem dritten Weltkrieg samt atomaren Overkill mündet. Nie hätte ich gedacht in die Verle­gen­heit zu kommen, deutsche Generäle zu loben. Einschät­zungen aus diesen Kreisen erscheinen mir aber gegen­über mancher grünen Kriegs­be­geis­te­rung fast als weise.

    Deser­teuren zu helfen finde ich immer gut. Die Idee, Deser­teure mit luxuriöse Urlaubs­reisen vom Kriege wegzu­lo­cken und somit Putin das Kanonen­futter zu entziehen, ist origi­nell. Darauf ist bisher wohl noch kein anderer gekommen. Ich fürchte aber, letzt­lich wird sich militä­ri­sche Logik durch­setzen. Für ein Schweigen der Waffen sehe ich nur eine Chance, wenn zum einen nicht immer weiter an der Eskala­ti­ons­schraube gedreht wird und zum anderen keine Seite hoffen kann einen totalen Sieg zu erringen. Sofern beide Kriegs­par­teien gewisse Teilerfolge erzielen und die Möglich­keit haben, sich daraus Erzäh­lungen über Vater­land und Heldenmut zusam­men­zu­bas­teln, könnte das zumin­dest den Einstieg in Verhand­lungen und ein „Einfrieren“ des Krieges ermög­li­chen. Frieden auf der Grund­lage von Verstän­di­gung wäre damit noch weit entfernt. Aber zumin­dest käme es zu einer Atempause und in der Ukraine müssten nicht weiter täglich Menschen erbärm­lich verre­cken.

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