Aus linken Kreisen höre ich die Klage über die »Heuchelei des Westens«, wie er sich überschlage in Empörung über die Kriegsverbrechen des Moskauer Raketenwerfers in der Ukraine, aber doch immer geschwiegen habe über usamische Kriegsverbrechen in Vietnam, über die katastrophalen Folgen der Intervention in Libyen usw. Diese Klage ist vor allem ein Armutszeugnis derjenigen, die sie äußern; sie ist nicht souverän, schlecht durchdacht und außerdem stillos. Ich versuche also eine alternative Analyse des Putin-Regimes und habe einen konkreten Vorschlag, um den Ukrainekrieg zu beenden.
Nicht souverän: Statt einen eigenen Standpunkt zu suchen, beschränken sich jene Linken, z. B. manche Autoren der NachDenkSeiten und der Jungen Welt, darauf, die Standpunkte anderer Leute zu spiegeln und billig zu delegitimieren. Ich kenne die Methode von Alois Mertes, Annemarie Renger und Jürgen Möllemann, die am 10. Oktober 1981 ein Flugzeug über Bonn kreisen ließen mit der Parole: »Und wer demonstriert in Moskau?« Jemand sagt etwas zum Thema A; der Gegner sagt: »Und was sagst du zu Thema B?« Die Logik dieses Prinzips, neuerdings Whatboutism (Undwasistmitismus) genannt, bedeutet praktisch: Wer den Regenwald in Brasilien nicht gerettet hat, muss auch hinnehmen, dass die alte Linde im Nachbargarten gefällt wird.
Schlecht durchdacht, denn es wird umgekehrt ein Schuh daraus: Wenn der Vietnamkrieg imperialistisch war und der russische Krieg in der Ukraine so etwas ist wie der Vietnamkrieg, dann bedeutet das, dass dieser Krieg imperialistisch ist. Doch wo bleibt die Fortschreibung von Lenins Imperialismustheorie, angewandt auf die Kriegs- und Machtspiele der Herren- und Jägerrunde im Kreml? Die Aufgabe ist nicht einfach, denn es scheint derzeit in Russland keine bedeutenden kapitalistischen Konzerninteressen zu geben, die für den Krieg sprechen. Im Gegenteil: Gasprom und andere russische Rohstoffkonzerne leiden erheblich unter dem Krieg und den vom Krieg ausgelösten Sank¬tionen, wahrscheinlich sogar mit nachhaltiger Wirkung. Offenbar wurde die russische Staatsführung von anderen als kapitalistischen Interessen auf diesen verbrecherischen Irrweg geführt.
Stillos, denn dieses Gequengel erinnert mich an den Dieb, der sich über seine Festnahme beklagt mit dem Hinweis, dass deser oder jener Kleptokrat doch frei herumlaufe. Doch ich höre dazu auch Männer in Nürnberg rufen: »Nicht schuldig!« (Das ist kein Nazivergleich, nur eine freie Assoziation, eine künstlerische Inspiration. Ich bitte um Verzeihung.)
Ein nationalkonservativ-militaristisches Régime
Wir stehen in Russland einem nationalkonservativ-militaristischen Régime gegenüber, das sich mit einer aus der Zeit gefallenen Brutalität über Menschenrechte, Leib und Leben von Tausenden Mitmenschen hinwegsetzt, mit Begründungen und Parolen, die große Ähnlichkeit haben mit Parolen deutschnationaler Historiker und Antisemiten des späten 19. Jahrhunderts vom Schlage eines Heinrich von Treitschke oder eines Julius Langbehn. Treten uns Linken solche Regimes in anderen Ländern gegenüber – in der Türkei, in Ungarn, in Brasilien –, dann bestreitet niemand, dass wir sie bekämpfen müssen. Tritt aber ein solches Régime in Russland auf, dann neigen wir spontan dazu, es zu verteidigen. Ich sage hier ganz bewusst »Wir«, weil ich diese Tendenz in mir selber kenne und beobachtet habe, auch noch bei Beginn des aktuellen Krieges. Außerdem ist das Bekämpfen im Fall Russland objektiv schwierig, da Russland eine Atommacht ist. Ein bisschen Analyse dazu, um meine Einschätzung zu untermauern:
Nationalistisch: Das P‑Régime verherrlicht eine angeblich urrussische Mission, ein Bollwerk gegen die »Dekadenz« des liberalen »Westens« zu bilden, gegen die »Flut« von Hollywood, Feminismus, Schwulentum, Schwarzenkult, Veganismus, Tierschützerei, dieses ganze männerfeindliche, arbeiterfeindliche, verweichlichende Gedöns. Diese Strömung schlägt bei manchen Linken Saiten des Kampfes gegen den »Kulturimperialismus« und des Proletkults an. Der russische Philosoph und Ideengeber Alexander Dugin vertritt das Konzept eines »eurasischen Kulturraums«, der sich unter Führung Russlands gegen den usamischen Kulturraum behaupten solle. Dabei knüpft er, wie Micha Brumlik analysierte, an die geopolitisch-faschistischen Geschichtsphilosophien Martin Heideggers, Julius Evolas und Oswald Spenglers an.
Konservativ: Im Bündnis mit Teilen der russisch-orthodoxen Kirche verherrlichen die Putinisten über-kommene Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien des 18. und 19. Jahrhunderts und versuchen, deren Überbleibsel zu bewahren oder zu restaurieren. Als noch der Gutsherr über seine Leibeigenen gebot, als der Offizier die »Manneszucht« in seiner Kompanie aufrecht erhielt, als der strenge Patriarch Zucht und Ordnung auf dem Hof und in der Familie mit gewässerten Weidengerten gegen aufbegehrende Jugendlichkeit durchsetzte – eindrücklich geschildert von Maxim Gorki in seinem Buch »Meine Kindheit« –, als Frauen noch in allen öffentlichen Dingen zu schweigen hatten, da war ihre Welt in Ordnung, da wollen sie wieder hin. Der italienische Philosoph und Faschist Julius Evola (1898–1974) sagte: Nur in strengen, gewaltsam aufrecht erhaltenen Rangordnungen erweise sich die Rückbindung einer Gesellschaft an die Sphäre des Heiligen. Dugin greift in Russland diesen Gedanken auf. Dazu gehören äußerst rigide Vorstellungen von einem patriarchalisch geordneten, anständigen Familienleben. (Dazu DLF 2017)
Militaristisch: Einen hemmungslosen Kult des Militärischen, der Waffengewalt, der Rituale des Befehls und Gehorsams, der angeblichen Ehre der Bewaffneten gab es bereits in der Sowjetunion und ist aus der Geschichte des »Großen Vaterländischen Krieges« 1941–45 verständlich. Schon die von Stalin geprägte Bezeichnung des Krieges ist militaristisch: Sie verdeckt die Große Menschliche Trauer um die 50 Millionen Menschen, die dem Krieg zum Opfer fielen, durch »großartige» Militärparaden, die Präsentation »großartiger« Waffen, durch Stolz auf gewaltige, gewaltsame Taten. Sie verdeckt das Menschheitsverbrechen, die menschheitliche Katastrophe dieses Krieges durch den engen Blickwinkel des ruchlos überfallenen »Vaterlandes«. Das ist vom Täterland westlich der Oder aus kaum zu kritisieren. Die Kritik sollten wir Vertretern anderer Länder überlassen, die 1939–45 ähnliche Schicksale erleiden mussten wie die Sowjetunion: Polen, Belgien, die Niederlande, Luxemburg, Dänemark, Norwegen, Jugoslawien, Griechenland, Litauen, Lettland, Estland. Oder auch der Ukraine als dem anderen Nachfolgestaat. Uns Deutschen, und speziell uns deutschen Linken und Pazifisten, mag diese Aufzählung als Krücke dienen, um aus der Sackgasse herauszufinden, in der der sowjetische Militarismus die einzig mögliche Antwort auf das Trauma eines faschistischen Überfalls zu sein scheint.
Umgewandelt in einen nationalrussischen Militarismus, begegnete er uns 1999–2009 beim Zweiten Tschetschenienkrieg, der dem damaligen Ministerpräsidenten Putin 2000 zum ersten Sieg bei einer Präsidentschaftswahl verhalf. Obwohl dieser Krieg von dem tschetschenischen Terroristenführer Bassajew ausgelöst worden war, zielte der russische Feldzug nicht auf Bassajew ab, sondern auf die von Aslan Maschadow geführte, vergleichsweise gemäßigte Regierung in Grosny, jenen Maschadow also, mit dem Putins klügerer Vorgänger Jelzin 1996 noch einen Friedenskompromiss gefunden hatte. Diesmal kam es den russischen Militaristen darauf an, die »Gefahr« eines Friedensschlusses im Keim zu ersticken, um, koste es, was es wolle, das Land vollständig mit Waffengewalt unterwerfen zu können. Schon dieser Krieg russischer Militaristen hatte starke Ähnlichkeitkeiten mit der schlimmsten Phase des Vietnamkriegs gehabt, als usamische Militaristen ein kleines Land in Südostasien in die Steinzeit zurückbomben wollten, um es für seine Widerständigkeit zu bestrafen. Zwei wichtige Unterschiede sollen jedoch nicht unter den Tisch fallen: Von Vietnam waren keine terroristischen Angriffe auf Nachbarländer oder ausländische Metropolen ausgegangen. Andererseits hatte sich die Weltgeschichte seit dem Vietnamkrieg weiterentwickelt, weg von brutalen Eroberungskriegen im Stil des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Weltgeschichte, nicht jedoch die russische.
Zar Wladimir und der Siebenjährige Krieg
Gleichsetzungen mit Hitler und dem II. Weltkrieg sind immer falsch und verbieten sich besonders in Deutschland gegenüber einem Land, das damals im Zentrum deutscher Herrschsucht und deutscher Mordtaten stand. Zum Glück bietet die europäische Geschichte genug anderes Vergleichsmaterial. Der russische Liberale Wladimir Ryschkow sagte 2015 in einem Interview mit dem ZDF-Korrespondenten Dietmar Schumann, Putin denke in den Kategorien des 19. Jahrhunderts. Am liebsten wäre ihm ein neuer Wiener Kongress, auf dem sich die Großmächte, darunter Zar Alexander I. von Russland, 1815 darüber einigten, wie sie die Länder und Völker Europas untereinander aufteilen konnten. Zumindest bis zum nächsten Revolutionsjahr 1830 hielt das Konstrukt.
Eine vielleicht besser treffende Spur führt ins 18. Jahrhundert zurück. Am 1. September 2021 hielt Putin vor Schülerinnen und Schülern in Wladiwostok einen Vortrag über russische Geschichte und bezog sich positiv auf Zar Peter I., der 1700 in den Großen Nordischen Krieg gegen Schweden eingetreten war, um russische Seehandelswege in der Ostsee durchzusetzen. Dabei unterlief Putin ein möglicherweise Freudscher Fehler: Er verwechselte den Großen Nordischen Krieg, der 21 Jahre dauerte, mit dem Siebenjährigen Krieg, den König Friedrich II. von Preußen 1756 mit einem heimtückischen Überfall auf Sachsen einleitete. Durch die Presse ging die Anekdote, dass Putin öffentlich von einem Schüler korrigiert wurde. Vielleicht verriet Putin damals, in wessen Fußstapfen er sich treten sah: in die des großen Kriegstreibers von Sanssouci, der sich 1756 für unbesiegbar hielt, weil seine Herrschsucht, seine brutale Entschlossenheit und seine Risikobereitschaft vermeintlich dem vorsichtigen Lavieren der ihn umgebenden Monarchen haushoch überlegen waren. Ganz Ähnliches wurde über Putins Habitus und Selbstinszenierung bei Beginn des Ukrainekrieges berichtet. Friedrich II. provozierte damals die erste russische Besetzung von Berlin und überlebte seinen Größenwahn nur mit so viel Glück, dass er selbst von einem »Mirakel des Hauses Brandenburg« sprach.
Auf eine weitere Parallele zum preußischen Militarismus wies Ute Scheub kurz nach Kriegsausbruch in einem Essay über Putins toxischen Männlichkeitskult hin: die berüchtigte Dedowtschina im russischen Militär, ein informelles sadistisches System von Drill und Folter, das ältere Soldaten, sog. Großväter, an Rekruten und jungen Soldaten verüben und das jährlich bis zu 3000 junge Männer in den Suizid treiben soll. Sie hat große Ähnlichkeiten mit dem mörderischen Prügeldrill im preußischen Militär, der seit den Zeiten des »Soldatenkönigs« (Friedrichs II. Vater Friedrich Wilhelm I.) das Leben in Preußen vergiftete.
Was tun? Karibik für die Deserteure!
Die zentrale Rolle, die russisches Soldatentum in dieser Tragödie spielt, diktiert möglicherweise auch ein wirksames Gegenmittel. Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat es in einer seiner Reden an die russischen Soldaten bereits angedeutet: Allen russischen Soldaten, die sich in ukrainische Gefangenschaft begeben, hat er eine ehrenvolle Behandlung zugesichert. Der Berliner Historiker Jörg Baberowski erwähnte Putins Risiko, dass der entfesselte Krieg zur massenhaften Desertion russischer Soldaten führen und so ein von unten erzwungenes klägliches Ende finden könne. Das gezielt auszulösen, könnte eine wirksame Waffe gegen das angreifende Militär sein, die anders als übliche Waffen die Gefahr eines Atomkrieges umgeht.
Das erscheint derzeit unwahrscheinlich, weil russische Soldaten um die Verbrechen wissen, die sie in der Ukraine begangen haben, und deshalb kaum darauf vertrauen können, als Gefangene von den Ukrainern gut behandelt zu werden. Zumal Selenskyj in anderen Reden auch immer wieder angekündigt hat, er wolle alle Schuldigen zur Rechenschaft ziehen. Dazu kommt die Gefahr, dass russische Gefangene in der Ukraine später von siegreichen russischen Truppen zurückgeholt und dann auch in Russland als Verräter verfolgt werden könnten. Wer die Seite wechselt, droht derzeit also zum Paria beider Seiten zu werden. So wird das nichts.
Deshalb ist internationale Hilfe und eine ausgeklügelte Logistik vonnöten. Russische Deserteure müssen schnell geortet, schnell aus der Reichweite ihrer Truppen entfernt, von internationalen Organisationen außer Landes geholt und so aus der Gefahrenzone gebracht werden. Um ihnen den schwierigen und moralisch belasteten Schritt einer Desertion zu erleichtern, muss das Angebot verlockend genug sein. Ein Internierungslager à la Guantanamo ist keine verlockende Perspektive. Verlockend wären Kreuzfahrtschiffe, die die Gefangenen als Luxuspassagiere aufnehmen und in die Karibik oder nach Kambodscha entführen. Das würde ein bisschen Geld kosten. Schätzungsweise ein Zehntel des Geldes, das Waffen für die ukrainische Armee kosten, und es wäre wahrscheinlich zehnmal so wirksam wie diese Waffen. Denn es genügt wahrscheinlich eine kleine Anzahl geretteter Soldaten, dann müssen die russischen Generäle ihre Soldaten kasernieren, um die Kontrolle über sie zu behalten, und können sie nicht mehr ins Feld hinausschicken. Sie müssten ihren Krieg beenden.
Was hindert uns daran, so zu verfahren? Unser eigener Militarismus, unsere eigenen Gottheiten Befehl und Gehorsam, deren Autorität untergraben werden könnte. Und unser verfluchter Gerechtigkeits-Fanatismus, der Glaube, alle Verbrecher müssten unbedingt bestraft werden wie am Ende eines anständigen Hollywood-Märchens. Ob wir diese Hemmnisse überwinden können?
Presseschau
Thomas Willms, Bundesgeschäftsführer der VVN-BdA, kam in der Verbandszeitung »antifa« (Mai/Juni 2022) zu einigen Schlussfolgerungen, die meine Einschätzung der Positionen Putins und der Lage Russlands bestätigen:
- „Es ist eine Argumentation mit Stalin gegen Lenin, der überhaupt Russland verraten habe.“
- „Ein weiteres ideologisches Konstrukt … die »Geopolitik«: Es wird so getan, als gäbe es eine Art Einmaleins der politischen Geografie, nach der der vorwärtskriechenden NATO nun einmal irgendwann mit Gewalt begegnet werden müsse. Es scheint ganz vergessen zu sein, dass diese Denkschule als Pseudowissenschaft des imperialistischen Deutschlands des Ersten und Zweiten Weltkriegs entwickelt wurde…“
- Es gibt keinen anderen Staat, „für den der waffenexport eine so herausragende Rolle als Wirtschaftskonzept spielt“ wie Russland.
- „Die harte Wahrheit ist, dass der Westen, insbesondere die USA, Russland nach 1991 gerade nicht als »Hauptfeind« betrachteten, sondern als besiegte Macht von gestern, die man getrost ignorieren kann. So kam aus Sicht der russischen Führung, zum imperialen Phantomschmerz auch noch die Beleidigung.“
- „Wo »toxische Männlichkeit« zur Staatsräson gehört, liegt die Lebenserwartung von Männern bei 65 Jahren; wo alle Macht sich im Zentrum konzentriert, verfällt u. a. das Gesundheitswesen im weiten Land…“
- Das „ist ein Krieg wie aus dem 18. Jahrhundert, wie ihn Friedrich II. 1756 gegen Österreich führte. Friedrich wollte die Provinz Schlesien haben, um damit seinem Reich Untertanen, »Kornkammern« und »Erzbecken« einzuverleiben. Genau das will Putin in der Ukraine auch.“
- „»TOS‑1« Raketenartillerie mit thermobarischen (kriegsrechtlich verbotenen) Sprengköpfen, die alles töten, was eine Lunge hat. Wie bei sämtlichen russischen Armeen der Jahrhunderte zuvor ist das Leben eines russischen Soldaten wenig wert.“
- „So ausgerüstet und von einer arroganten Offizierskaste angeleitet, führen sie einen Krieg wie im Mittelalter: Städte werden belagert und ausgehungert; Kirchen, Schulen, Krankenhäuser, Wohngebiete in Schutt und Asche gelegt. Erst wird völlig zerstört, dann besetzt.“
- „Selbst wenn die russische Armee die ihr gesetzten militärischen Ziele erreichen sollte, sind die politischen schon jetzt verloren… Das gegnerische, in Wirklichkeit lange dahindümpelnde, NATO-Bündnis ist wachgetreten worden wie ein böser Hund. Die Existenzgrundlage der russischsprachigen Bevölkerung im Osten des Landes ist durch russische Bomben zerstört. (…) Besetzte ukrainische Gebiete werden den russischen Staat verwesen lassen wie eine eiternde Wunde. Zehntausende junger Russen werden sterben, hunderttausende um ihre Zukunft betrogene junge Menschen aus dem Land flüchten.“
Danke für deine beeindruckende Analyse mit so vielen historischen Hintergründen. Dein Lösungsvorschlag klingt zunächst verlockend, ist in meinen Augen aber zu kurz gedacht. Was soll zukünftig passieren mit Deserteuren in einem Karibikstaat? Wie lange sollen sie sich dort verstecken, ohne ihre Familien und wer soll sie womöglich jahrelang „aushalten“?? Außerdem würde man damit verbrecherisches, menschenverachtendes Handeln „belohnen“, was auch niemand verstehen würde. Soldaten, die ihre eigenen Frauen anrufen, um sich die Legitimation für die Vergewaltigung ukrainischer Frauen abzuholen, meinen doch immer noch, das Richtige zu tun! Die lockt man nicht mit einem Kreuzfahrtschiff in die Karibik. Leider.
Und natürlich ist jede Idee diskussionswürdig, die zum Ende dieses absurden Krieges führen könnte.
Danke für das Lob. Die Deserteure müssen ggf. zwei, drei Jahre lang versorgt werden. Bezahlt wird das aus den Rüstungshaushalten, da, wo man gerade 100 Mrd € herbeizaubert. Es kostet, sagen wir, 50 Mio €, das wären 0,05 % der genannten Summe.
Jenseits der Kriegspropaganda, die natürlich die extremsten Einzelfälle sofort auf alle Feinde verallgemeinert, werden russische Soldaten sehr verschiedene Menschen sein. Nicht alle kommen als potenzielle Deserteure in Frage: glühende Regimeanhänger ebenso wenig wie Männer mit starken familiären und heimatlichen Bindungen, die sich nicht trennen wollen. Erreichen kann man wahrscheinlich zwei sehr unterschiedliche Gruppen: Leute, die den Krieg und die Verbrechen zum Kotzen finden und so schnell wie möglich da rauswollen, und Abenteurertypen ohne Bindungen, die den dreckigen Kriegsruhm gerne mal mit einem Luxusleben eintauschen. Man muss beide Gruppen unterschiedlich ansprechen und ihnen unterschiedliche Perspektiven anbieten – ersteren nämlich eher eine aktive Mitwirkung beim Beenden des Krieges, also bei Anti-Kriegs-Propaganda, die nach Russland hineingesendet wird.
In jedem Fall tritt die eigentliche Wirkung dadurch ein, dass die Generäle ihre verbliebenen Soldaten in Kasernen sperren, um nicht die Kontrolle über sie zu verlieren. Das zwingt sie, die Feldzüge abzubrechen und sich zurückziehen.
Der Einwand mit dem Belohnen von Kriegsverbrechern ist wahrscheinlich das größte Hindernis auf unserer Seite. Er ist irreführend, denn wir belohnen nicht die Kriegsverbrechen, sondern das Beenden von Kriegsverbrechen. Belohnt wird, wer mit der Scheiße aufhört. Reuige Sünder also – eigentlich ein im Christentum wurzelnder Gedanke. Von daher könnten Kirchen, Misereor, Brot für die Welt, Malteser, Johanniter usw. die Träger der Aktion sein.
Vielen Dank für diesen Beitrag. Du setzt Impulse, die sonst nicht oder kaum zu erlangen sind.
Auf meiner Ostermarschrede bin ich ebenfalls darauf eingegangen, dass Linke eine klammheimliche Sympathie mit Putin pflegten und sich von Russland enttäuscht fühlten. Ich habe so begonnen:
“Das hätte keine/r von uns erwartet: Die russischen Panzer werden von den Urenkeln der Frauen und Männer gesteuert, die gemeinsam mit ihren ukrainischen Kampfgefährten unter unvorstellbaren Opfern die Sowjetunion verteidigten, die Hitler-Wehrmacht niederrangen und Europa vom Faschismus befreiten.
Das hätte keine/r von uns erwartet: Dieses mal sollten die US-Geheimdienste Recht behalten mit den Warnungen vor dem russischen Angriff, nachdem Russland dieses wochenlang bestritten hatte. Der Wortbruch Russlands löst große Ängste und Verunsicherungen über seine Glaubwürdigkeit aus.”
Diesem Beitrag kann ich zustimmen, zumindest dem geschriebenen Teil. Ein Mangel ist jedoch, was nicht erwähnt ist, nämlich das vielfache harte Heranrücken an die russischen Grenzen durch die NATO. Denn vor allem diese Vorgeschichte, und nicht etwa Putins Geschichtsverständnis, kennzeichnet den geopolitischen Konflikt, den die USA (und im Gefolge EU u. BRD) gegen Russland und China vom Zaun gebrochen haben, um ihre Hegemonialstellung zu verteidigen. Das rechtfertigt den Krieg um die Ukraine nicht, aber nur in diesem Zusammenhang ist er politisch einzuordnen.
Danke fürs Lob! Natürlich fehlt in meinem Artikel ganz viel; die Ukraine zum Beispiel und, vor allem, die aktuelle Atomkriegsgefahr (ich werde den Hinweis an einer Stelle ergänzen). Mein Beitrag soll nicht die Weltlage erklären, sondern einen Aspekt des russischen Angriffskrieges, der das Verhältnis deutscher Linker zu Russland tangiert. Um die geopolitische Situation einzuschätzen, ist es m. E. zu früh. Ob wirklich die gefühlte Einkreisung durch die NATO für Putin entscheidend war, den Krieg zu beginnen – wir wissen es noch nicht. Wollten Usa und EU ihre Hegemonialstellung gegen Russland verteidigen? War diese Stellung denn durch Russland bedroht? Das ist mir nicht aufgefallen, jedenfalls nicht in der Zeit nach Gorbatschow. Schlüssiger erscheint mir die Erklärung, dass die Teilhegemonie des Putin-Regimes durch die Entwicklung in der Ukraine bedroht war. Steckt in der Art und Weise, wie wir osteuropäische Akteure routinemäßig zu Marionetten des US-Imperialismus erklärt haben – ganz ähnlich, wie unsere deutschen Gegner sie früher zu Marionetten des Sowjet-Imperialismus erklärt haben – eine große Portion Überheblichkeit? Vielleicht sogar eine im Grunde deutsch- oder russischnationale Überheblichkeit im Leninkostüm?
Vielem kann ich zustimmen, z. B. der Kritik an Autoren der sogenannten „Nachdenkseiten“, die den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine relativieren oder beschönigen wollen. Die ausführliche Beschreibung der ideologischen Grundlagen des despotischen russischen Regimes unter Putin, ob Jelzin wirklich „schlauer“ war, darüber kann man geteilter Meinung sein, finde ich gut getroffen. Sämtliche Schandtaten des nationalistischen russischen Regimes können mir aber den völkischen ukrainischen Nationalismus, den uns u. a. Herr Melnyk eindrucksvoll vor Augen führt, nicht sympathischer machen. Ich mag mich daher nicht auf die Seite der ukrainischen Regierung schlagen. Dafür gleichen sich m. E. die wie Kanonen gegeneinander in Stellung gebrachten Narrative von Blut und Boden viel zu sehr.
Kein Beispiel nehmen sollten wir uns auch an manchen Politiker:innen der Grünen, die sich gebärden als wollten sie am liebsten gegen Russland in den heiligen Krieg ziehen und für die es keine Rolle zu spielen scheint, ob die Situation außerhalb jeglicher Kontrolle gerät und in einem dritten Weltkrieg samt atomaren Overkill mündet. Nie hätte ich gedacht in die Verlegenheit zu kommen, deutsche Generäle zu loben. Einschätzungen aus diesen Kreisen erscheinen mir aber gegenüber mancher grünen Kriegsbegeisterung fast als weise.
Deserteuren zu helfen finde ich immer gut. Die Idee, Deserteure mit luxuriöse Urlaubsreisen vom Kriege wegzulocken und somit Putin das Kanonenfutter zu entziehen, ist originell. Darauf ist bisher wohl noch kein anderer gekommen. Ich fürchte aber, letztlich wird sich militärische Logik durchsetzen. Für ein Schweigen der Waffen sehe ich nur eine Chance, wenn zum einen nicht immer weiter an der Eskalationsschraube gedreht wird und zum anderen keine Seite hoffen kann einen totalen Sieg zu erringen. Sofern beide Kriegsparteien gewisse Teilerfolge erzielen und die Möglichkeit haben, sich daraus Erzählungen über Vaterland und Heldenmut zusammenzubasteln, könnte das zumindest den Einstieg in Verhandlungen und ein „Einfrieren“ des Krieges ermöglichen. Frieden auf der Grundlage von Verständigung wäre damit noch weit entfernt. Aber zumindest käme es zu einer Atempause und in der Ukraine müssten nicht weiter täglich Menschen erbärmlich verrecken.