Deutscher Exportkult ohne Ende und ohne Grundlage

Der leitende Wirtschaftsredakteur der Süddeutschen Zeitung, Alexander Hagelüken (»Lasst uns länger arbeiten!«, 2019) nutzte Ostern 2021 die Coronakrise, um einmal mehr zu behaupten, dass »wir Deutschen» »unsere Wirtschaft» und »unseren Wohlstand« nur durch den Export von Autos, Maschinen, Chemikalien usw. erhalten könnten. Dabei übertrieb er die wirtschaftliche Bedeutung der Exporte.

Sein Kommentar zielte vor allem gegen Autarkie-Gelüste, die vereinzelt wegen der Knappheit von Impfstoffen aufgekommen waren, aber auch gegen Konzepte einer umweltfreundlichen Regionalwirtschaft, die von Ökonomen wie Niko Paech diskutiert werden. Das sei, so Hagelüken, ein Wirtschaftsmodell, das die Armut vergangener Jahrhunderte wieder auferstehen lassen würde. »Nur durch Industrialisierung und Handel kam der Westen zu Wohlstand.« Ich widerspreche: Das wissen wir nicht. Deutschland kam zwar durch Industrialisierung und Handel zu Wohlstand – aber ob das »nur« auf diese Weise möglich war und auf keine andere Weise möglich gewesen wäre, das wissen wir nicht.

»Unsere Wirtschaftsleistung besteht fast zur Hälfte aus Exporten«, behauptet Hagelüken. Hier stützt er sich auf die sog. Exportquote, das Verhältnis zwischen Exportsumme und Bruttoinlandsprodukt (BIP). Die betrug in der Tat 2015 46,9 %; 2016 46,1 %; 2017 47,2 %; 2018 47,4 %; 2019 46,9 % und – Überraschung! – 2020 nur 43,8 %.

Doch das Statistische Bundesamt (Destatis) schränkt die Bedeutung dieser Zahlen ausdrücklich ein: »Da in den Exporten auch importierte Güter enthalten sind, darf die Exportquote nicht als Anteil der Exporte am Bruttoinlandsprodukt interpretiert werden. Den Anteil des Bruttoinlandsprodukts, der durch Auslandsnachfrage induziert ist, zeigt die wesentlich niedrigere Exportabhängigkeitsquote des Bruttoinlandsproduktes.« Das bedeutet: Viele Güter und Leistungen, die als deutsche Exporte mitgezählt werden, wurden zuvor von deutschen Unternehmen importiert und dann bloß weiterverarbeitet und ins Ausland weiterverkauft. Produziert oder bereitgestellt wurden sie in anderen Ländern.

Weiter unten finden wir bei Destatis die Exportabhängigkeitsquote des BIP, d. h. »den Anteil des Bruttoinlandsproduktes (BIP), der durch die Auslandsnachfrage induziert wurde«. Sie betrug 2015 28,3 %; 2016 28,0 % und 2017 28,8 %. Das ist eine Menge, aber viel weniger als „fast die Hälfte“, und lässt den umgekehrten Schluss zu: 71 bis 72 % des BIP wurden vom deutschen Binnenmarkt initiiert. Das gilt vor allem für den sehr großen und sehr arbeitsintensiven Anteil des BIP (rund 70 %), der in Dienstleistungsbranchen entsteht: in Gesundheitswesen, Finanzdienstleistung, Medienbetrieben, Kulturwirtschaft, Beratungsgewerbe, Bildungswesen, Einzelhandel, öffentlichen Diensten usw. – all den Feldern, von denen leider bislang eher selten die Rede ist, wenn man von deutscher Wirtschaft und der Basis des deutschen Wohlstands spricht.

Die deutsche Exportquote ist im Coronajahr 2020 deutlich gesunken. Das spricht gegen Hagelükens These zur Pandemie: »Nur weil die Industrie exportiert, wächst die Wirtschaft wieder.« Nö – die Wirtschaft wächst gar nicht, und wenn sie weniger schrumpft als befürchtet, dann auch deshalb, weil die Deutschen weniger reisen, mehr zu Hause kochen und mehr Küchen kaufen.

Export lässt viele Herzen höher schlagen, weil »deutsche Exportweltmeisterei« (Hagelüken) so etwas wie deutsche Fußballweltmeisterei zu sein scheint – eine Folge von Siegen, manchmal auch Niederlagen, in einem ständigen Wettkampf der Nationen. Dieses Bild verzerrt die Wirklichkeit des Weltmarkts ganz gewaltig, denn dort konkurrieren nicht Nationalmannschaften, sondern international organisierte Konzerne. In welchem Land diese Konzerne ihren Sitz haben, ist für ihre Wirtschaftsleistung meist von geringer Bedeutung und nur noch historisch und fiskalpolitisch interessant. Ihre Wirtschaftsleistung setzt sich fast immer aus Komponenten zusammen, die aus vielen Ländern stammen und in viele Länder geliefert werden. Alles, was ein Konzern macht, ist Export, alles ist Import und alles ist Binnenmarkt. Diese Kategorien stammen aus dem 19. Jahrhundert, der Zeit der Schutzzölle, und haben in einer vernetzten Weltwirtschaft ihre Relevanz verloren. Nur der Mythos will nicht davon lassen.

Ist es nicht überhaupt eine merkwürdige Idee, dass es besonders gut sein soll, Waren zu produzieren, die wir nict selber nutzen, sondern andere? Deshalb das Antidogma:

Wer für den Export arbeitet, arbeitet für andere.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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