Voller Morden? Nein, die Welt ist voller Küsse.

Eine Welt voller Küsse: Massenküssen in Zürich (Youtube-Video)

Der britische Philosoph Thomas Hobbes behauptete im 17. Jahrhundert, die Menschheit sei von Natur aus in einen Krieg aller gegen alle verstrickt, und nur dank einiger absoluter Herrscher sei dieser Kriegszustand in vielen Ländern unterdrückt. In anderen Gestalten tauchte das gleiche Dogma seitdem immer wieder auf. Etwa in der Form: „Die Welt ist voller Morden“ (Walter Flex 1917). Oder: „Wo man hinschaut: Die Welt brennt an allen Ecken und Enden.“ So geisterte es 2014, hundert Jahre nach Beginn des I. Weltkriegs, durch Kommentare, Moderationen und Facebook-Beiträge.[1] 2023, mit dem Ukrainekrieg und dem neuen Nahostkrieg im Nacken, schien alles noch viel schlimmer geworden zu sein. Doch ich bin geneigt, das Dogma in dieser Form für einen Irrtum zu halten, den man buchstäblich widerlegen kann. Denn jeden, der mich jetzt ungläubig und kopfschüttelnd anstarrt, bitte ich, den Bildschirm für drei Minuten auszuschalten und in dieser Zeit alle Länder aufzuzählen, in denen jetzt, also am heutigen Tage, Menschen im Krieg gestorben sind.

Ja, meine Liebe, mein Lieber – welche Länder sind das?

(Nein, noch nicht weiterlesen! Erst die Länder aufschreiben!)

Also gut: die Ukraine, Russland, Israel, Palästina, außerdem wohl in Syrien, dem Irak, Äthiopien, dem Jemen, dem Sudan, Somalia, Mexico, Myanmar – wo noch? Im Kongo wahrscheinlich, in Nigeria…

Gut, die drei Minuten sind um. Ich kam bei diesem Test auf 14 Länder. Und Sie? Hatten Sie mehr?

Der Wikipedia-Artikel „Liste der andauernden Kriege und bewaffneten Konflikte“ nennt für 2022 und 2023 rund 20 Länder mit Kriegen, die mehr als 1000 Todesopfer gefordert haben. In 20 der 195 Länder der Erde herrscht also derzeit Krieg. Das bedeutet: In 175 Ländern der Erde herrscht derzeit kein Krieg oder fast kein Krieg.

Der 28jährige deutsche Soldat Walter Flex dichtete im Frühjahr 1915 in einem Schützengraben in Frankreich die Zeilen: Wildgänse rauschen durch die Nacht / mit schrillem Schrei nach Norden. / Unstete Fahrt, habt Acht, habt Acht! / Die Welt ist voller Morden.

Das Lied erschien 1917 am Anfang von Walter Flex’ Kriegserzählung »Der Wanderer zwischen beiden Welten«. Flex’ Behauptung wird bis heute wiederholt; oft sogar von Gesellschaftskritikern in angeblich kritischer Absicht. Zum Beispiel schrieb die Deutsche Presse-Agentur dpa am 2. Mai 2009 in einer Meldung über den 70. Geburtstag der französischen Dramatikerin Ariane Mnouchkine: »Und weil unsere Welt voller Gewalt, Unehrlichkeit und Hoffnungs­losigkeit ist, schlägt die französische Regisseurin … regelmäßig und unüberhörbar Alarm.«[2] Haben sie Recht, die Alarmisten mit ihren schwarzen Brillen?

Da, wo der Dichter Walter Flex sich befand – an einer Front des I. Weltkriegs, dazu in »Feindesland« – hatte er Recht: Dort war damals die Welt voller Morden. Womit Walter Flex nebenbei Kurt Tucholskys später so scharf bekämpfte Einschätzung bestätigte, dass Soldaten Mörder seien. Doch ist jener Schützengraben repräsentativ für die Welt als Ganzes? Ist jener Kriegsmonat in Frankreich repräsentativ für die ganze Geschichte der Menschheit?

Wenn wir zum Beispiel die 220 Jahre deutscher Geschichte von 1800 bis 2020 betrachten, dann stoßen wir auf etwa 180 Friedensjahre und – großzügig gezählt – 40 Kriegs­jahre. Dabei habe ich auch Jahre mit Bürgerkriegen (1919-1923) und Jahre, in denen nur wenige Wochen lang Krieg war (zum Beispiel 1864 und 1871) als Kriegsjahre gezählt. Dennoch überwiegen die Friedensjahre bei weitem. Und das in einem Land der Welt, in dem überdurchschnittlich oft Krieg war.

Es gibt das Sprichwort, dass die Jahre, über die nichts in den Geschichtsbüchern steht, die glücklichen Jahre eines Volkes sind. Man sieht daran, wie sehr Historiker und Journalisten dazu neigen, die historische Realität zu verzerren. Sie übertreiben die Bedeutung der Kriegszeiten maßlos. Sie verschweigen, dass die weitaus meisten Menschen in der Regel im Frieden leben. Der Frieden ist also kein utopisches Ziel, das wir niemals erreichen werden, sondern schon längst Realität. Wir müssen ihn nur wahrnehmen und in seiner Bedeutung würdigen. Wahrnehmen und würdigen, dass 175 Friedensländer rund neun Mal schwerer wiegen als 20 Kriegsländer. Dass 180 Friedensjahre viereinhalb Mal schwerer wiegen als 40 Kriegsjahre.

Das gilt in gleicher Weise für die Abwesenheit ziviler Morde. Waren Sie jemals persönlich in einen Mordfall verwickelt? Oder kennen Sie jemanden persönlich, der in einen Mordfall verwickelt war? Die wenigsten können eine dieser Fragen bejahen. Haben Sie dagegen schon einmal einen Kuss miterlebt? Das zeigt, wie selten Morde und wie häufig Küsse in Wirklichkeit sind. Die Welt ist vielleicht voller gespielter Morde, voller Bilder von Morden, aber bestimmt nicht voller Morde.

Wie kommt diese Verzerrung zustande? Liegt das wirklich daran, dass »die Leute« sich mehr für Kriege und Morde interessieren als für Küsse, Fußball oder Schuhe?

Wohl kaum. Aktuell interessiert der Kuss, den man kriegen könnte, oder der Kuss auf Nachbars Balkon viel mehr als ein Krieg im Sudan. Die groteske Vergrößerung des Mordens entsteht erst dann, wenn Journalisten, Philosophen und andere Weltenrichter zwischen das Leben und seine Betrachter treten: Dann geht’s auf einmal nur noch um Mord und Totschlag, Erdbeben und Bürgerkrieg, so selten diese Ereignisse auch sein mögen. In der deutschen Geistesgeschichte wurden solche Wertungen gerne damit begründet, dass die Betrachtung von Morden »tief«, »existenziell«, »männlich« und »deutsch« sei, die Betrachtung von Küssen dagegen »flach«, »weibisch«, »französisch« oder »amerikanisch«.[3] Die Krimi-Autorin Sibylle Berg wusch 2014 bei einem Interview ihre Hände in Unschuld, als der Interviewer sie auf die hohe Konzentration von Bosheit in ihren Werken ansprach: „So böse wie die Welt kann ich gar nicht sein.“[4] Oh doch, Madame, Sie können es; Sie können als Einzelperson viel böser als die Welt sein, da Bosheiten in der Welt als Ganzes nur in starker Verdünnung auftreten. Der Denkfehler in diesem Satz liegt darin, dass die Autorin sämtliche Bosheiten, die sieben Milliarden Menschen in, sagen wir, zehn Jahren begangen haben, mit der Menge der Bosheiten vergleicht, die sich ein einzelner Mensch in einem halben Jahr ausdenken kann.

Wenn alte Menschen über vergangene Erleb­nisse sprechen, geht es sehr oft um Kriegserlebnisse – und viel seltener um Küsse. Das liegt wohl daran, dass Morde und Kriegserlebnisse Ausnahmen sind, unnormal, selten. Deshalb erscheinen sie uns besonders erzählenswert. Paradoxerweise ist also auch der Umstand, dass so häufig über Morde gesprochen wird, ein Indiz dafür, wie geringfügig ihre Rolle in Wirklichkeit ist – und für Diana Distels

Gegenthese:
Die Welt ist voller Küsse.


[1] Drei Beispiele: »Die Zeit« begann am 2.9.2014 eine Serie mit dem Titel »Von Kriegen umzingelt«. Im Auftaktartikel behauptet Bernd Ulrich: »Die Welt ist verrückt… Ukraine, Gaza, Syrien, Irak – die Vielzahl der Krisen bringt den Westen ins Wanken«. – Bundespräsident Joachim Gauck behauptete im September 2014 in einem Interview: »An der Peripherie unseres Friedens und unseres Wohlstands sind wir umgeben von manchen sehr bedrohlichen Szenarien.« Neue Westfälische 19.9.2014 – Can Merey, Michael Donhauser: Guter Tag für die Kinder der Welt (Neue Westfälische 11.10.2014). Der Bericht beginnt mit dem Satz: »Während überall auf der Welt Kriege wüten, erhält ein 17-jähriges Mädchen aus Pakistan den Friedensnobelpreis.«

[2] Neue Westfälische 3.3.2009

[3] Vgl. etwa Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra (1883), Die Reden Zarathustras: Vom Krieg und Kriegsvolke. Ich zitiere: Ihr sagt, die gute Sache sei es, die sogar den Krieg heilige? Ich sage euch: der gute Krieg ist es, der jede Sache heiligt. – Ebenda, Vierter und letzter Teil, Vom höheren Menschen. Ich zitiere: Was von Weibsart ist, was von Knechtsart stammt und sonderlich der Pöbel-Mischmasch: das will nun Herr werden alles Menschen-Schicksals – O Ekel! Ekel! Ekel! / Das frägt und frägt und wird nicht müde: »Wie erhält sich der Mensch, am besten, am längsten, am angenehmsten?« –Thomas Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen (1918), Vorrede. Ich zitiere: Und wieviel von seinem [des 19. Jahrhunderts] brutalen und redlichen Pessimismus, von seinem besonderen strengen, maskulinen und „bedürfnislosen“ Ethos waltet noch in Bismarcks „Realpolitik“ und Anti-Ideologie!

[4] WDR 3 Radio, Mosaik, 19.10.2014

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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