Deutschland ohne Nazis I: Bismarck und Bebel im Finale

Die Nazizeit, sagte AfD-Gauland, war ein Vogel­schiss in der deutschen Geschichte. OK, wir schauen uns den Rest der Geschichte an! Deckt er die ewigen Legenden der Konser­va­tiven und Deutsch­na­tio­nalen? Oder finden Links­de­mo­kraten und Pazifis­tinnen dort ihre Wurzeln? Fragen an den Histo­riker Korff. Im ersten Teil der Serie lässt Korff Bismarck und Bebel gegen­ein­ander antreten.

Der preußi­sche Gutsbe­sitzer Otto von Bismarck lebte von 1815 bis 1898, wurde 1862 preußi­scher Minis­ter­prä­si­dent (berufen von König Wilhelm I.), 1871 der erste Reichs­kanzler des von ihm selbst konzi­pierten Deutschen Reiches und wurde 1890 von Kaiser Wilhelm II. entlassen. Der Kölner Drechsler August Bebel lebte von 1840 bis 1913 und war sein gewich­tigster innen­po­li­ti­scher Gegner: 1869 gründete er mit Wilhelm Liebknecht die Sozial­de­mo­kra­ti­sche Arbei­ter­partei, aus der 1875 die SPD hervor­ging. Sie stand in scharfer Opposi­tion zu Bismarcks Militär‑, Kriegs- und Macht­po­litik.

Wer hatte letzt­lich den stärkeren Einfluss auf die deutsche Geschichte: Bismarck oder Bebel?

Haha, eine sehr reizvolle Frage! Ich sage: Bebel.

Eine gewagte These! Hat sie Hand und Fuß?

Lass‘ uns eine Art Spiel wagen! Jeder auf Bismarck oder Bebel zurück­gehende Anstoß, der länger als zehn Jahre vorge­halten hat, soll einen Punkt kriegen; wenn’s zwanzig Jahre waren, zwei Punkte und so weiter. Wir betrachten dafür die Zeit bis zur deutschen Wieder­ver­ei­ni­gung 1990. Was hältst du davon?

Gut. Fang mit Bismarck an, da ist es, glaube ich, einfa­cher zu messen.

In der Tat; weil Bismarck, anders als Bebel, regiert hat, konnte er viel direkter auf den Verlauf der Geschichte einwirken. Dennoch ist die erste langfris­tige Wirkung, die er erzielt hat, eher eine indirekte: Im preußi­schen Verfas­sungs­kon­flikt, der von einer Heeres­re­form ausge­löst wurde, hat er um 1865 die deutschen Liberalen gespalten – in den links­li­be­ralen Flügel, dem die Menschen­rechte wichtiger waren als die Nation, und den natio­nal­li­be­ralen Flügel, dem die Nation wichtiger war als die Menschen­rechte. Diese Wirkung hat bis 1969 angehalten, denn so lange war die FDP faktisch natio­nal­li­beral. 1970 gab es im Bundestag noch ein letztes Aufbäumen der Natio­nal­li­be­ralen um Erich Mende, gegen die Regie­rung Brandt-Scheel.

Das macht 11 Punkte für Bismarck. Und was ist mit der Heeres­re­form selbst?

Die ging nicht auf Bismarck zurück, sondern auf Roon; Bismarck war nur das Werkzeug, um sie politisch durch­zu­setzen. Deshalb zähle ich die Heeres­re­form nicht mit. Aber natür­lich Bismarcks augen­fälligstes Werk: die klein­deut­sche Reichs­gründung unter Ausschluss Öster­reichs. Diese Trennung hält – mit einer kurzen Unter­bre­chung 1938–1945 – bis heute an. Da wir unsere Betrach­tung aber aus guten Gründen mit dem Jahr 1990 abschließen sollten, bekommt Bismarck dafür…

…12 Punkte, von 1871 an gerechnet. Macht zusammen 23.

Dann wäre da noch Bismarcks Kultur­kampf gegen die katho­li­sche Kirche, der um 1875 begann und Auswir­kungen bis zum Jahr 1933 hatte: In der ganzen Weimarer Republik blieb die katho­li­sche Zentrums­partei in den Augen der Deutsch­na­tio­nalen eigent­lich eine undeut­sche Partei. Erst die katho­lisch geprägten Nazis Hitler, Goebbels, Himmler usw. haben das katho­li­sche und das deutsch­na­tio­nale Element wieder vereint, nament­lich mit dem Reichs­kon­kordat 1933.

Macht 6 Punkte, wenn wir großzügig von 1874 bis 1934 rechnen; zusammen 29.

Gut, dann wollen wir zunächst die ähnlich offen­sicht­li­chen Wirkungen Bebels bewerten, ehe wir auf schwie­ri­gere Fälle wie das Junkertum und die Sozial­ge­setze eingehen. Bebel verkör­perte wesent­lich die Gründung der Sozial­de­mo­kratie, und die SPD gibt es bis heute. Das macht, von 1869 an gerechnet bis 1990…

…12 Punkte für Bebel. Bismarck steht bei 29.

Aus der gleichen Wurzel, der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung, stammen die Gewerk­schaften, die es ebenfalls bis heute gibt. Aller­dings war Bebel selbst kein typischer Gewerk­schafter, keiner, der primär für höhere Löhne gekämpft hat; deshalb schlage ich hier halbe Punkte vor, also nur 6 für den ganzen Zeitraum.

Macht 18 Punkte für Bebel. Bismarck steht bei 29.

Bebels Buch »Die Frau und der Sozia­lismus« hat wesent­lich dazu beigetragen, die Frauen­frage in den Kampf der Arbei­ter­be­we­gung zu integrieren; und daraus ist 1919 das Frauen­wahl­recht entstan­den, das es bis heute gibt. Ich denke, hier können wir volle Punkte geben.

Also 7 Punkte bis 1990, macht 25 für Bebel. Bismarck steht bei 29 – es wird knapp.

Er wird wohl noch ein paar halbe Punkte kriegen. Die Sozial­ge­setze sind so ein Fall, konkret die paritä­tisch finan­zierte Renten- und Kranken­ver­si­che­rung. Bismarck hat sie um 1880 politisch durch­ge­setzt, aber aus freien Stücken hätte er so etwas nie getan. Dass er überhaupt staat­liche Zugeständ­nisse an die Arbeiter machen musste, war wiederum ein Verdienst Bebels (als Repräsen­tant der Arbei­ter­be­we­gung). Also: halbe Punkte für beide für 1880–1990.

Sagen wir, jeweils 5; Bebel steht bei 30, Bismarck bei 34.

Der 1918 einge­führte Achtstun­dentag geht aller­dings eindeutig auf Bebels Konto. Für den II. Weltkrieg und die Nachkriegs­zeit muss man dabei etwa zehn Jahre, also einen Punkt abziehen.

Dann bleiben 6 Punkte: Bebel liegt jetzt mit 36:34 vorn.

Ich lege noch einen drauf: Die DDR – oder genauer: die SED – war eine, wenn auch verkrüp­pelte, Frucht der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung. Sie ging auf eine Verei­ni­gung von SPD und KPD in der Sowje­ti­schen Besat­zungs­zone zurück und griff auf sozial­de­mo­kra­ti­sche Tradi­tionen zurück. Das heißt, Bebel kriegt für die Zeit der SED, 1946–90, halbe Punkte.

Das sind aller­dings nur zwei: Bebel 38, Bismarck 34. Wie steht es denn mit Bismarcks Einfluss auf die DDR?

Den gab es zwar, aber der beruht auf Zufällen. Bismarck war zufällig Preuße, und die DDR lag zufällig überwie­gend auf ehemals preußi­schem Terri­to­rium. Das war kein Verdienst Bismarcks. Aber wo wir bei Preußen sind: Für das preußi­sche Junkertum und für die deutschen Fürsten­höfe kriegt er noch halbe Punkte. Halbe nur, weil er beides so vorge­funden hat. Er hat die starke Rolle der Großagra­rier und der Fürsten­höfe nicht gestaltet, aber er hat sie als effek­tiver Struk­tur­kon­ser­va­tiver über mehrere Jahrzehnte der Bedro­hung hinweg erhalten: die Fürsten­höfe von 1870 bis 1918, das Junkertum von 1860 bis etwa 1940. In den letzten Kriegs­jahren ging es damit schon stark bergab.

Also 2 Punkte für die Fürsten und 4 für die Junker. Bebel steht bei 38 und Bismarck wieder vorn bei 40. Du machst es ganz schön spannend!

Gut, ich hole zu den drei letzten Schlägen aus: die 68er-Bewegung, die sozial­de­mo­kra­ti­sche Ostpo­litik und die Friedens­be­we­gung der 1960er bis 1980er Jahre. Alle sind noch indirekte Früchte Bebels: Die 68er und ihre Nachfolger in den sozialen Bewegungen haben sich drei Jahrzehnte lang immer wieder auf die Tradi­tionen der sozia­lis­ti­schen Arbei­ter­be­we­gung bezogen und berufen. Die Ostpo­litik der SPD knüpfte an die bis 1914 selbst­ver­ständ­liche Friedens­po­litik der damaligen SPD an, und Ähnli­ches gilt für die Friedens­be­we­gung. Das gibt jetzt wohl endgültig krumme Zahlen.

1,5 Punkte für die 68er, 1,5 für die Ostpo­litik. 3 Punkte zusammen; damit liegt Bebel am Ende mit 41:40 vor Bismarck. Donner­wetter!

Diese Rechnung ist natür­lich anzwei­felbar. Zum Beispiel könnte man fragen, wo Bismarcks Rolle für die deutschen Konser­va­tiven und für den deutschen Milita­rismus geblieben ist. Dazu sage ich: Bismarck selbst war in seinen späteren Jahren als Kanzler eigent­lich gar kein Konser­va­tiver; er war ja eher ein Mann der Revolu­tion von oben. Wenn die Konser­va­tiven ihn dennoch verehrt haben, beruhte das auf einem Missverständ­nis. Und zum Milita­rismus hat Bismarck selbst wenig beigetragen; er hat ihn ledig­lich sehr effizient genutzt und vertei­digt. Das haben wir über die Reichs­grün­dung schon gewür­digt und auch über die Junker, die wichtigsten sozialen Träger der deutschen Offiziers­kaste.

Gab es bei Bismarck nicht auch eine Art Ostpo­litik gegen­über Russland?

Ja, aber die endete praktisch schon kurz nach Bismarcks Entlas­sung 1890. Der ganze Weg in den I. Weltkrieg hatte nichts mehr mit Bismarcks Ostpo­litik zu tun.

OK, wir lassen es dabei: Bebel siegt im Match der histo­ri­schen Wirkungen mit 41 zu 40 Zählern über Bismarck.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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