Aachener Dom 2014

Eine Welt ohne Religion?

Natur­wis­sen­schaft­le­rinnen und Techniker werfen uns Geistes- und Sozial­wis­sen­schaft­le­rinnen gerne vor, wir schnitzten uns eine Welt, wie sie uns gefällt. Doch wenn es um Religion geht, tun jene praktisch genau das, was sie uns vorwerfen: Sie konstru­ieren eine Kultur ohne Religion, eine Stadt ohne Kirchen, also eine Art Dreieck ohne Winkel. Übrigens wäre eine Welt ohne Religion vermut­lich eine Welt ohne Kunst.


Als Gegner jegli­cher Religion tun die Genannten so, als könne man Religionen einfach aus der Gleichung wegkürzen, und prompt entstünde eine von Vernunft und Evidenz gelei­tete mensch­liche Kultur. Ausnahme: Hirnfor­scher. Die neigen wiederum zum anderen Extrem, die Vernunft aus der Gleichung wegzu­kürzen, weil sie glauben, dass Menschen stets von Emotionen geleitet werden – und Emotionen sind für sie stets nur die übelsten und destruk­tivsten, zu denen Menschen fähig sind. Religion, soweit sie Tugenden des Zusam­men­le­bens verkündet oder gar von Liebe spricht, hat im Weltbild der Hirnfor­sche­rinnen ebenfalls keinen Platz.

Als Histo­riker bin ich zwar nicht religiös und zufällig auch nur wenig religiös geprägt (OK, ich bin im Schatten des Aachener Doms groß geworden), aber ich sehe, dass Religionen die Mensch­heit seit Jahrtau­senden bewegen, dass religiöse Vorstel­lungen und Werte eine große Rolle beim Aufbau von Kulturen, Staaten und Rechts­sys­temen gespielt haben. Nehmen wir nur die Kirchen, Moscheen und Synagogen als Objekte der Baukunst und große Teile der Kunst­ge­schichte überhaupt: Ohne Religion wären die meisten Werke Michel­an­gelos, Leonardos, Raffaels, Rembrandts, Genti­le­schis, Fried­richs oder Chagalls nicht entstanden. Auch nicht die Werke Dosto­jew­skis, Tolstois, Bölls oder Toni Morri­sons.

Wer die mensch­liche Kultur als Gewor­dene sieht, kann Religion und religiöse Werte nicht ausklam­mern. Anders als viele Natur­wis­sen­schaftler sehen wir Histo­riker die Welt – genauer: die von Menschen geschaf­fene Welt – so, wie sie geworden ist. Wir bemühen uns jeden­falls darum.

Siehe auch: Mit Beethoven gegen die Folter

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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