Eine Welt ohne Religion?

Naturwissenschaftlerinnen und Techniker werfen uns Geistes- und Sozialwissenschaftlerinnen gerne vor, wir schnitzten uns eine Welt, wie sie uns gefällt. Doch wenn es um Religion geht, tun jene praktisch genau das, was sie uns vorwerfen.


Als Gegner jeglicher Religion tun sie so, als könne man Religionen einfach aus der Gleichung wegkürzen, und prompt entstünde eine von Vernunft und Evidenz geleitete menschliche Kultur. Ausnahme: Hirnforscher. Die neigen wiederum zum anderen Extrem, die Vernunft aus der Gleichung wegzukürzen, weil sie glauben, dass Menschen stets von Emotionen geleitet werden – und Emotionen sind für sie stets nur die übelsten und destruktivsten, zu denen Menschen fähig sind. Religion, soweit sie Tugenden des Zusammenlebens verkündet oder gar von Liebe spricht, hat im Weltbild der Hirnforscherinnen ebenfalls keinen Platz.

Als Historiker bin ich zwar nicht religiös und zufällig auch nur wenig religiös geprägt, aber ich sehe, dass Religionen die Menschheit seit Jahrtausenden bewegen, dass religiöse Vorstellungen und Werte eine große Rolle beim Aufbau von Kulturen, Staaten und Rechtssystemen gespielt haben. Nehmen wir nur die Kirchen, Moscheen und Synagogen als Objekte der Baukunst und große Teile der Kunstgeschichte überhaupt: Ohne Religion wären ein Michelangelo, ein Leonardo, ein Raffael, ein Rembrandt, eine Gentileschi, ein Caspar David Friedrich, ein Chagall nicht groß geworden. Auch nicht ein Dostojewski, ein Tolstoi, ein Böll, eine Morrison.

Wer die menschliche Kultur als Gewordene sieht, kann Religion und religiöse Werte nicht ausklammern. Anders als viele Naturwissenschaftler sehen wir Historiker die Welt – genauer: die von Menschen geschaffene Welt – so, wie sie geworden ist. Wir bemühen uns jedenfalls darum.

Veröffentlicht von

jejko

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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