Möbiusband Max Bill

Ihre Namen seien: Diametrale, Progressive und Plurale

Es wird offenbar ernsthaft darüber nachgedacht, die nach 2001 entstandene westliche Kultur mit dem läppischen Wort „postpostmodern“ zu bezeichnen.[1] Das spätestens sollte Menschen, denen Worte und Geschichte wichtig sind, Anlass geben, über Sinn und Unsinn gängiger Epochen­begriffe nachzudenken. Der Historiker und Werbetexter Jens Jürgen Korff schlägt hier sechs neue vor.[2]

Bild: Von Skulptur: Max Bill; Foto: Volker Wagenitz – Eigenes Werk, CC0

Was sagen die Epochenbegriffe der letzten Jahrhunderte über ihre jeweilige Zeit aus? Ganz früher, so erfahren wir aus den Begriffen, gab es eine Antike; das war die alte Zeit. Dann kam das Mittelalter – das war die Zeit nach der alten Zeit. Dann kam die Neuzeit. Als die damit bezeichnete Zeit, auch Renaissance genannt, veraltet war, musste man an die Neuzeit die Neueste Zeit anstückeln. An die Neueste Zeit die Moderne. An die Moderne, die man jetzt »klassische Moderne« nannte, die moderne Moderne. An die moderne Moderne die Postmoderne, und an die Postmoderne, die auch schon ihre fünfzig Jahre auf dem Buckel hat, die Postpostmoderne. Oder kommt dann die Neomoderne, bald gefolgt von der Neopostmoderne (bzw. Postneomoderne)? Eine deprimierende Endlos­schleife zeichnet sich ab.

Seit Hunderten von Jahren kreisen diese Epochenbegriffe um immer denselben Gedanken: Es gibt die frühere Zeit und die jetzige Zeit. Die jetzige Zeit ist die Zeit nach der früheren.  Ist das alles, was uns zum Geist der Epochen eingefallen ist? Nein, nicht ganz: Ein zweiter Gedanke behauptet, dass das jeweils Neue die Wiederkehr eines schon überwunden geglaubten Alten sei: Romanik, Renaissance, Klassizismus, Neorenaissance, Historismus, Neohistorismus – sechs Epochenbegriffe für den immer gleichen Gedanken, der darauf hinausläuft, dass nach dem Forum Romanum nichts Relevantes mehr gekommen sei.

Ich sprenge hier den Rahmen einer Dogmenkritik und den der intellektuellen Bescheidenheit, mobilisiere meine Texterkompetenz als Finder von Wortmarken und sage: Jede Epoche hat einen zentralen Grundgedanken gehabt, der sie von früheren Epochen unterschied. Lasst uns diesen Gedanken jeweils benennen und daraus den Namen der Epoche ableiten! Was ist der zentrale neue Gedanke der Zeit seit 1970, die man bislang so flachsinnig die Postmoderne nennt? Das ist die Vielfalt, die Pluralität. Die Vielfalt der Menschen und ihrer Motive, die Vielfalt ihrer Werke, auf die fast jedes neue Werk sich bezog. Also nennen wir diese Epoche doch die Plurale!

Was bitte soll eine Moderne sein, die nicht mehr modern ist? Suchen wir lieber den zentralen Gedanken, der die Epoche von 1850 bis 1980 geprägt hat! Das war der Gedanke des unaufhaltsamen Fortschritts. Frank Augustin spricht in agora42 von der „Zeit, die nur eine Richtung kannte und an der alles ausgerichtet wurde; die unter der Last des Versprechens, es würde künftig besser werden, zusammengebrochen ist“. Also nennen wir diese weitgehend abge­schlossene Epoche doch die Progressive! Um fruchtlosen Zäsurdebatten aus dem Wege zu gehen, überlappen sich die Epochen einfach an den Rändern.

Die Progressive wurde 1914 bis 1945 in Europa und Japan allerdings unterbrochen durch eine Zwischenepoche, die von einem größenwahnsinnigen Streben nach militä­rischer Weltherrschaft und brutaler Unterdrückung geprägt war. Diese Zwischenepoche können wir die Oppressive nennen.

Die Epoche vor der Progressive, etwa von 1500 (Kopernikus, Luther) bis 1850, war durch den zentralen Gedanken geprägt, dass wir Menschen die Welt durchmessen und ihre Gesetze erkennen können. Nennen wir sie also die Diametrale!

Das sogenannte Mittelalter schließlich, nach herkömmlicher Definition die Zeit von 500 bis 1500, kann seinen Namen auch nicht behalten, da es schon lange nicht mehr in der Mitte des betrachteten Zeitraums liegt. Zudem zerfiel es, genauer und mit mehr Anteilnahme betrachtet, in mindestens zwei Epochen mit unterschiedlichen Grund­gedanken: die auf die Metropolen Rom und Konstantinopel, Kaisertum und Papsttum ausgerichtete Epoche von 500 bis 1200, und die stark von Glaubensbekennt­nissen, Glaubensstreit und Kreuzzügen geprägte Epoche von 1100 bis 1550. Wir können sie die Metropolitane und die Religionale nennen.

Will ich wirklich den ehrwürdigen Begriff »Moderne« verabschieden? Ein gewagtes Unterfangen! Doch schauen wir uns den Eiertanz an, der den Wikipedia-Artikel »Moderne (Architektur)« einleitet: „Moderne bzw. Modernismus bezeichnet in der Geschichte der Architektur eine nicht allgemein abzugrenzende Architektur­epoche. Oft meint man damit die international verwendete Formen­sprache, die sich innerhalb des heute klassische Moderne genannten Kunstgebietes zu Beginn des 20. Jahrhun­derts entwickelte …. Ebenso werden die Tendenzen seit der Revolutionsarchitektur und dem Klassi­zismus in der Zeit um 1800 als Moderne bezeichnet, wie auch die jüngsten und zeitgenössischen Strömungen …. So können auch die Postmoderne oder der heutige Neohistorismus als modern bezeichnet werden, abhängig vom Zusammenhang.“ Mit anderen Worten: Der Begriff »Moderne« ist praktisch unbrauchbar geworden, weil niemand weiß, was gerade gemeint ist.

Die neuen Namen Diametrale, Progressive und Plurale würden uns helfen, Auswege aus der zwanghaften Suche nach Gesetzmäßigkeiten zu finden. In der eindimensionalen Sichtweise, die jeweils neueste Zeit bloß als das siegreiche Neue und die vergangene bloß als das überwundene Alte zu sehen, steckt die dogmatische Annahme, die Geschichte habe sich zwangsläufig vom Alten zum Neuen hin entwickelt; sie habe nur dieses eine Neue hervorbringen können, das deshalb völlig zurecht das Alte abgelöst habe. Geben wir den Epochen jedoch Namen, die ihre zentralen Ideen repräsentieren, öffnen wir das große Buch der Möglichkeiten. Wo eine bestimmte Idee ist, da kann auch eine andere sein. Die anderen Ideen sind schon längst da; wir haben die Wahl, wie sich das in der Plurale gehört.

Denn:

Geschichte ist immer für eine Überraschung gut.


[1]     so z. B. Literaturwissenschaftler der Universität Trier 2004 oder der Kieler Literaturwissenschaftler Albert Meier 2017

[2]     Erstmals veröffentlicht in Jens J. Korff: Die dümmsten Sprüche in Politik, Kultur und Wirtschaft – und wie Sie gepflegt widersprechen. Frankfurt 2015, S. 168-172. Dort im Rahmen einer Kritik des Dogmas „Geschichte läuft gesetzmäßig ab“.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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