Mit Beethoven gegen die Folter

Künstler können die Welt nicht verändern? Das kann man anders sehen. Der britische Evolutionspsychologe Steven Pinker ging in dem 2011 erschienenen Mammutwerk »Gewalt« der Frage nach, warum sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Europa eine Kultur des Mitleids, der Empathie ausbreitete (damals Empfindsamkeit genannt) und dafür sorgte, dass die Folter stark eingeschränkt wurde, dass die Todesstrafe auf wenige Verbrechen beschränkt wurde, dass öffentliche Hinrichtungen als Schauspiel aus der Mode kamen und dass das vorher übliche Einkerkern von Verschuldeten in Schuldtürmen in vielen Ländern beendet wurde. Pinkers These dazu hört sich gewagt an: Das hing mit der gleichzeitig stark zunehmenden Verbreitung von Romanliteratur und – ich ergänze – thematisch ähnlichen Dramen und Opern zusammen.

Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme

Pinker stützt sich ganz allgemein auf die zunehmende Masse und Bedeutung der damaligen Literatur. Denn ihre Leserinnen und Leser, wie auch die zahlreichen Theater- und Opernzuschauer, lernten unweigerlich, sich mit fremden Menschenschicksalen zu identifizieren, lernten also Empathie.

Doch auch die konkreten Inhalte dieser Medien konnten eine entsprechende Wirkung entfalten. Ein Beispiel ist Ludwig van Beethovens Oper »Fidelio«, 1. Akt, 6. Auftritt. Leonore sagt über den hinausstürmenden Gefängniskommandanten Don Pizarro im Rezitativ: Abscheulicher! Wo eilst du hin? / Was hast du vor in wildem Grimme? / Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme, / Rührt nichts mehr deinen Tigersinn? Das Mitleid, das der Gefängniskommandant mit dem Gefangenen Florestan haben könnte, wird in dieser Passage zur Stimme der Menschheit geadelt, die dem »Tigersinn«, also dem tierischen Jagdtrieb entgegentritt. Das ist einerseits eine unreali­stische Projektion Leonores, die ihr eigenes Mitleid mit dem Geliebten Florestan auf den Diktator übertragen möchte. Aber bezeichnend für die sich wandelnde Zeit ist doch, dass überhaupt der Gedanke aufkommt, ein Gefängnis­kommandant könne mit einem ihm unterstellten und ansonsten unbekannten Gefangenen Mitleid haben. Und dass dieses Mitleid gegebenenfalls »der Menschheit Stimme« wäre, also das, was Menschen gegenüber Tieren auszeichnet. Zugleich wäre es die Menschheit als Ganze, die in jedem einzelnen Menschen spricht und ihn zum Mitleid mit Fremden befähigt.

Mitleid als Bühneneffekt

Pinkers These geht dahin, dass dieser neue Gedanke ein neues Gefühl ausgelöst habe – hört! hört! Ein Gedanke, der ein Gefühl auslöst! Gerhard Roth und andere bejubelte Hirnforscher unserer Zeit bestreiten ja vehement, dass so etwas möglich sei, sie bestehen darauf, dass stets die Gefühle zuerst da seien und die hinterherklappernden Gedanken uns nur dazu dienten, unsere Gefühle zu bemänteln. Dabei setzen sie sinnigerweise eine Tradition fort, die auf einen Zeitgenossen Beethovens zurückgeht, auf Arthur Schopenhauer. Pinker sagt, dass der neue Gedanke, das neue Gefühl zunächst von einer Avantgarde auf der Bühne oder im Buch ausgesprochen und vorgelebt wurde und sich dann erst über weitere Teile der Menschheit ausgebreitet hat. Demnach können Dichter also doch die Welt verändern.

Veröffentlicht von

jejko

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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