Gefangenenchor Fidelio 2014 in Cottbus

Mit Beethoven gegen die Folter

Künstler können die Welt nicht verän­dern? Das kann man anders sehen. Der briti­sche Evolu­ti­ons­psy­cho­loge Steven Pinker ging in dem 2011 erschie­nenen Mammut­werk »Gewalt« der Frage nach, warum sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhun­derts in Europa eine Kultur des Mitleids, der Empathie ausbrei­tete (damals Empfind­sam­keit genannt) und dafür sorgte, dass die Folter stark einge­schränkt wurde, dass die Todes­strafe auf wenige Verbre­chen beschränkt wurde, …

Foto: Gefan­ge­nen­chor zur Première einer Auffüh­rung der Oper Fidelio am 28. Juni 2014 im Gefäng­nishof der Gedenk­stätte Zucht­haus Cottbus. Von Nurfoto – Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0, https://​commons​.wikimedia​.org/​w​/​i​n​d​e​x​.​p​h​p​?​c​u​r​i​d​=​3​3​6​5​5​014 

…dass öffent­liche Hinrich­tungen als Schau­spiel aus der Mode kamen und dass das vorher übliche Einker­kern von Verschul­deten in Schuld­türmen in vielen Ländern beendet wurde. Pinkers These dazu hört sich gewagt an: Das hing mit der gleich­zeitig stark zuneh­menden Verbrei­tung von Roman­li­te­ratur und – ich ergänze – thema­tisch ähnli­chen Dramen und Opern zusammen.

Des Mitleids Ruf, der Menschheit Stimme

Pinker stützt sich ganz allge­mein auf die zuneh­mende Masse und Bedeu­tung der damaligen Literatur. Denn ihre Leserinnen und Leser, wie auch die zahlrei­chen Theater- und Opern­zu­schauer, lernten unwei­ger­lich, sich mit fremden Menschen­schick­salen zu identi­fi­zieren, lernten also Empathie.

Doch auch die konkreten Inhalte dieser Medien konnten eine entspre­chende Wirkung entfalten. Ein Beispiel ist Ludwig van Beetho­vens Oper »Fidelio«, 1. Akt, 6. Auftritt. Leonore sagt über den hinaus­stür­menden Gefäng­nis­kom­man­danten Don Pizarro im Rezitativ: Abscheu­li­cher! Wo eilst du hin? /​ Was hast du vor in wildem Grimme? /​ Des Mitleids Ruf, der Mensch­heit Stimme, /​ Rührt nichts mehr deinen Tiger­sinn? Das Mitleid, das der Gefäng­nis­kom­man­dant mit dem Gefan­genen Flore­stan haben könnte, wird in dieser Passage zur Stimme der Mensch­heit geadelt, die dem »Tiger­sinn«, also dem tieri­schen Jagdtrieb entge­gen­tritt. Das ist einer­seits eine unreali­stische Projek­tion Leonores, die ihr eigenes Mitleid mit dem Geliebten Flore­stan auf den Diktator übertragen möchte. Aber bezeich­nend für die sich wandelnde Zeit ist doch, dass überhaupt der Gedanke aufkommt, ein Gefängnis­kommandant könne mit einem ihm unter­stellten und ansonsten unbekannten Gefan­genen Mitleid haben. Und dass dieses Mitleid gegebe­nen­falls »der Mensch­heit Stimme« wäre, also das, was Menschen gegen­über Tieren auszeichnet. Zugleich wäre es die Mensch­heit als Ganze, die in jedem einzelnen Menschen spricht und ihn zum Mitleid mit Fremden befähigt.

Mitleid als Bühneneffekt

Pinkers These geht dahin, dass dieser neue Gedanke ein neues Gefühl ausge­löst habe – hört! hört! Ein Gedanke, der ein Gefühl auslöst! Gerhard Roth und andere bejubelte Hirnfor­scher unserer Zeit bestreiten ja vehement, dass so etwas möglich sei, sie bestehen darauf, dass stets die Gefühle zuerst da seien und die hinter­her­klap­pernden Gedanken uns nur dazu dienten, unsere Gefühle zu bemän­teln. Dabei setzen sie sinni­ger­weise eine Tradi­tion fort, die auf einen Zeitge­nossen Beetho­vens zurück­geht, auf Arthur Schopen­hauer. Pinker sagt, dass der neue Gedanke, das neue Gefühl zunächst von einer Avant­garde auf der Bühne oder im Buch ausge­spro­chen und vorge­lebt wurde und sich dann erst über weitere Teile der Mensch­heit ausge­breitet hat. Demnach können Dichter also doch die Welt verän­dern.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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