Jesus und Judas – wer hat wen verraten?

Am Karfreitag starb nicht nur Jesus von Nazaret am Kreuz, sondern auch Judas Iskariot am Baum. Da Jesus ihn als Verräter und Teufel beschimpft (Johannes 6, 70) und dem Verräter den Unter­gang prophe­zeit hat (Lukas 22, 22), haben wir uns angewöhnt, diese Sicht­weise zu übernehmen und den Stricktod des Judas als gerechte Strafe zu bewerten. Die Verrä­ter­figur Judas wurde zum Bestand­teil des christ­lich motivierten Antise­mi­tismus, des Hasses auf die Juden als »Gottes­mörder« und Lumpen. Mein Lieblings-Evange­list Tim Rice übernahm diese Vorur­teile nicht und ließ 1970 in der Rockoper »Jesus Christ Super­star« Judas ausführ­lich selber zu Wort kommen.

Das Beat-Evange­lium beginnt sogar mit einem gesun­genen Monolog des Judas, in dem der Mann in einer fiktiven Rede an den abwesenden Jesus seine Gründe erläu­tert, warum er auf Distanz geht: Er bewun­derte Jesus als einen inspi­rie­renden Menschen, beklagt sich jetzt über die Jesus-Fans, die zu viel Himmel im Kopf hätten, und sieht »this talk of God«, dieses Gerede über Gott, nur als einen propa­gan­dis­ti­schen Trick Jesu an, um die Massen zu gewinnen. Der Enthu­si­asmus der gläubigen Massen war ihm persön­lich zuwider und politisch unheim­lich, weil er, ähnlich wie der Hohepriester Kajaphas, einen bewaff­neten Konflikt mit den Römern fürch­tete, in dem sie alle umkommen könnten. Aus Sorge um das Überleben der Gruppe beschloss er einzu­greifen.

Das Haupt­pro­blem besteht aber in dem Wider­spruch zwischen Vorbe­stim­mung und indivi­du­eller Schuld: Jesus wies einer­seits immer wieder darauf hin, dass das Schicksal des Menschen­sohns, also seiner mensch­li­chen Gestalt, und offenbar auch die Entschei­dungen aller Menschen, die unmit­telbar damit zu tun hatten, von Gott vorbe­stimmt waren. Anderer­seits sah er dennoch eine indivi­du­elle Schuld der Betei­ligten. So sagte er, als er Judas während des Abend­mahls als Verräter entlarvte: »Denn der Menschen­sohn geht zwar dahin, wie es beschlossen ist; doch weh dem Menschen, durch den er verraten wird!« (Lukas 22, 22). Lukas macht es sich einfach und erklärt Judas‘ subjek­tive Entschei­dung zum Verrat damit, dass der Satan in ihn gefahren sei (Lukas 22, 3). Diesen Joker kann man immer einsetzen, wenn einer aus der Reihe tanzt.

Der Evange­list Johannes berichtet von einer Spaltung unter Jesu Jüngern, die der Schluss­epi­sode in Jerusalem voraus­ging und von dem gleichen Wider­spruch ausge­löst wurde, den Judas in seinem Monolog in »Jesus Christ Super­star« anspricht. Als Jesus in einer Predigt in der Synagoge von Kaper­naum sagte: »Denn ich bin vom Himmel gekommen, nicht damit ich meinen Willen tue, sondern den Willen dessen, der mich gesandt hat« (Johannes 6, 38), da gab es unter den Jüngern Wider­spruch. Manche wandten ein: »Ist dieser nicht Jesus, Josefs Sohn, dessen Vater und Mutter wir kennen? Wieso spricht er dann: Ich bin vom Himmel gekommen?« (Joh. 6, 41f). Jesu Camou­flage als Menschen­sohn warf also das Problem auf, dass er Jünger gewann, die zwar an ihn glaubten, aber nicht in seiner Eigen­schaft als Gottes­sohn, sondern in seiner Eigen­schaft als inspi­rierender Mensch. Damit hing ein weiterer Spaltungs­grund zusammen. Jesus predigte in Kaper­naum, das letzte Abend­mahl vorweg­nehmend: »Ich bin das leben­dige Brot, das vom Himmel gekommen ist. Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit. Und dieses Brot ist mein Fleisch, das ich geben werde für das Leben der Welt.« (Joh. 6, 51). Die Vorstel­lung, Jesu Fleisch zu essen, erregte bei einigen Jüngern Unwillen. Einige riefen: »Wie kann er uns sein Fleisch zu essen geben?« Im Streit spitzte Jesus sein Verdikt weiter zu, offenbar, um nun die Jünger los zu werden, die an ihn als Menschen glaubten und sich deshalb weigerten, sein Fleisch zu essen: »Wenn ihr nicht das Fleisch des Menschen­sohns esst und sein Blut trinkt, so habt ihr kein Leben in euch.« (Joh. 6, 53). Also nicht nur kein ewiges Leben, sondern überhaupt kein Leben. Vielleicht fiel es ihm durch diese Denun­zia­tion leichter, einen Teil seiner Jünger zu verstoßen – im Wider­spruch zu einem Satz, den er kurz vorher gesagt hatte: »…wer zu mir kommt, den werde ich nicht hinaus­stoßen.« (Joh. 6, 37). Matthäus 11, 28 überlie­fert den berühmten Aufruf: »Kommt her zu mir, alle die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erqui­cken.« Jesus setzte im Streit mit opponie­renden Jüngern die Zuspit­zung fort und verknüpfte, zumin­dest in der Deutung durch den Evange­listen Johannes, den Unglauben an die göttliche Herkunft des Menschen­sohns mit dem Vorwurf des Verrats: »Aber es gibt einige unter euch, die glauben nicht. Denn Jesus wusste von Anfang an, wer die waren, die nicht glaubten, und wer ihn verraten würde.« (Joh. 6, 64). Nachdem ihn die Jünger verlassen hatten, die nicht das Fleisch ihres Propheten essen wollten, sprach Jesus die zwölf Apostel an: »Wollt ihr auch weggehen?« Petrus antwor­tete mit Nein, und Jesus erwiderte: »Habe ich nicht euch Zwölf erwählt? Und einer von euch ist ein Teufel.« (Joh. 6, 70). Hier deutet Johannes an, dass Jesus bewusst einen »Teufel« zum Apostel ernannt hat.

Tim Rice hat Judas in seiner Eingangs­szene als einen von denen gedeutet, die sehr wohl an Jesus von Nazaret glaubten, nämlich an den inspi­rie­renden Menschen und Menschen­führer, der die Mühse­ligen und Beladenen ausdrück­lich dazu aufge­for­dert hatte, ihm zu folgen. Judas hat demnach die Spaltung von Kaper­naum nicht mitge­macht und ist bei Jesus geblieben, obwohl er ihn weiterhin für einen Menschen hielt. Diese Form des Glaubens, die sich folge­richtig aus Jesu Auftreten als Menschen­sohn entwi­ckelte, wird in den Evange­lien nicht reflek­tiert, aber wieder­holt beschrieben und gelegent­lich als teuflisch denun­ziert. Jesus spielte dieses Spiel ein weiteres Mal, als er am Palmsonntag seinen Einzug in Jerusalem wie den Triumphzug eines Königs insze­nierte, aber gebro­chen durch das Detail, dass er nicht auf einem Pferd in die Stadt ritt, sondern auf einem Esel. Genau das rührte offenbar viele Jerusa­lemer beson­ders stark an: Jesus schien zugleich ein König zu sein, also ein Erhöhter, und ein Hirt oder Bauer mit Esel, also ein Mann von unten. So sorgte Jesus dafür, dass erneut eine große Menschen­menge entstand, die ihn als König, also als Menschen verehrte, die an ihn glaubte, so wie man an einen König und sein Heil glaubt. Der jubelnden Stadt scheu­derte er dann seine Klage über Jerusalem entgegen, die im Evange­lium nach Rice die rätsel­haften Worte enthält: »To conquer death, you only have to die« (»Um den Tod zu überwinden, musst du bloß sterben«). Bei Johannes spitzt Jesus diese lebens­feind­liche Wendung noch stärker zu: »Wer sein Leben lieb hat, der wird’s verlieren; und wer sein Leben auf dieser Welt hasst, der wird’s erhalten zum ewigen Leben.« (Joh. 12, 25). An dieser Stelle scheiden sich die Geister: Wer wie ich das Leben heilig findet und verehrt, und zwar das auf dieser Welt, der wird von Jesus klar verstoßen. (Bei Lukas 17, 33 und Matthäus 10, 39 ist der Ausspruch weniger eindeutig formu­liert, ohne das Wort »hassen«, also ohne eine Haltung zum irdischen Leben einzu­nehmen.)

Der Evange­list Johannes überlie­fert ein inter­es­santes Detail über Judas: Er »hatte den Geldbeutel«, sprich: er war der Kassen­wart der Gruppe (Joh. 12, 6 und 13, 29). Johannes verbindet die Infor­ma­tion sogleich mit einer billigen Verleum­dung: Judas habe gegen die Salbung Jesu durch eine Frau in Betanien prote­stiert, nicht um das gesparte Geld den Armen zu geben, wie er schein­heilig behaup­tete, sondern weil er als Kassen­wart notorisch Geld unter­schlagen habe: »er war ein Dieb, denn er hatte den Geldbeutel und nahm an sich, was gegeben war«. Offenbar konnte der Beobachter nicht unter­scheiden zwischen Geld, das jemand treuhän­de­risch verwal­tete, und Geld, das er privat einsackte. Oder sich nicht vorstellen, dass jemand diesen Dienst an der Gemein­schaft übernahm, ohne an seinen eigenen Vorteil zu denken. Rice deutet die Szene in Betanien viel stimmiger: Judas war schlicht eifer­süchtig auf Jesus, weil dieser die Zärtlich­keiten einer schönen Frau genießen durfte und er selber leer ausging. Getrieben von Eifer­sucht wertete er die Frau als Hure ab (»that a man like you can waste his time /​ on women of her kind«). Eine typische Männer­schwäche, aber kein Zeichen teufli­scher Verderbnis.

Während des letzten Abend­mahls benannte Jesus Judas als Verräter. Rice insze­niert die Szene als gehäs­siges Streit­ge­spräch, bei dem sich Judas selbst outet, was über die bibli­schen Evange­lien hinaus­geht:

JESUS: One of you here dining, one of my twelve chosen /​ Will leave to betray me –

JUDAS: Cut out the drama­tics! You know very well who –

JESUS: Why don’t you go do it?

JUDAS: You want me to do it!

JESUS: Hurry they are waiting.

JUDAS: If you knew why I do it…

JESUS: I don’t care why you do it!

JUDAS: To think I admired you /​ For now I despise you.

JESUS: You liar – you Judas!

JUDAS: You want me to do it! /​ What if I just stayed here /​ And ruined your ambition? /​ Christ you deserve it!

JESUS: Hurry you fool, hurry and go, /​ Save me your speeches, I don’t want to know ­– Go!

Hier setzen die sich betrin­kenden Apostel mit ihrem trüben egozen­tri­schen Singsang ein: (…) Then when we retire we can write the gospels /​ So they’ll all talk about us when we’ve died.

Judas ertränkt das Grauen seines Verrats in einer letzten Wutrede an den, den er ins Gefängnis zu schicken gedenkt: You sad pathetic man – see where you’ve brought us to… /​ Someone has to turn you in /​ Like a common criminal, like a wounded animal /​ A jaded mandarin /​ A jaded faded mandarin.

Gut beobachtet von Rice: der Menta­li­täts- und Stilun­ter­schied zwischen Jesus und Judas. Judas als Pragma­tiker (Kassen­wart, Organi­sator) kann das pathe­ti­sche Brimbo­rium nicht ausstehen, das Jesus so gerne verbreitet. Doch wichtiger: Judas spricht das logische Problem an, das die ganze Christus­geschichte belastet: »Du willst, dass ich es tue! Was wäre, wenn ich einfach hier bliebe und deinen Plan verei­telte?« Er merkt, dass Jesus das Ende seiner Laufbahn als Menschen­sohn insze­niert und dass er ihn, Judas, für die schmut­zige Rolle des Verrä­ters ausge­sucht hat; hofft aller­dings noch, dass Jesus mit dem Leben davon­kommen werde. Wenn aber alles von ganz weit oben festge­legt ist, wie Jesus später im Verhör zu Pilatus sagt, also weder Judas noch Pilatus eine Chance haben, seinen Tod zu verhin­dern – warum halten Jesus und die Evange­listen dann an der Vorstel­lung einer indivi­du­ellen Schuld des »Verrä­ters Judas« und des Richters Pilatus fest? Das ist unlogisch. Mit einigem Recht kann Judas zu dem Schluss kommen, dass er von Jesus herein­ge­legt und missbraucht wurde, denn Jesus hat ihn gezielt ange­sprochen, ihm geschmei­chelt und ihn in den Kreis der Apostel aufge­nommen.

Unlogisch ist aber auch die ganze Trauer um den getöteten Christus, also das Karfreitags­ritual, denn es war doch der Plan von Gottvater und Jesus­sohn, dass Jesus sich auf Erden von Menschen töten lassen sollte, um durch dieses Opfer die Menschen zu prüfen und – wenn auch nur teilweise – zu erlösen. Und irgendwie ein Verrat an den Menschen, die an Jesus als Menschen glaubten und nun ihren Propheten oder Messias auf diese grausame Weise verloren.

Notiert im April 2020

In seinem letzten Roman »Der Fall Judas« behan­delte Walter Jens 1975 einen fiktiven Selig­sprechungsprozess für Judas Ischa­riot in der Form einer foren­si­schen Fallstudie: „Ohne Judas kein Kreuz, ohne das Kreuz keine Erfül­lung des Heils­plans. Keine Kirche ohne diesen Mann; keine Überlie­fe­rung ohne den Überlie­ferer.“ (Zitat S. 8)

Notiert im Januar 2022

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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