Rassismus und Antisemitismus, auseinanderklamüsert

Der Streit um die antiis­rae­li­sche Boykott­be­we­gung BDS und um ein Kunst­werk der Documenta 15 hat im Frühjahr und Frühsommer 2022 in Deutsch­land erneut die große Frage aufge­worfen: Was ist eigent­lich Antise­mi­tismus, und wie unter­scheidet er sich vom Rassismus? Den antiko­lo­nia­lis­ti­schen Strömungen in Indone­sien und anderswo warfen viele deutsche Journa­listys vor, den Antise­mi­tismus misszu­ver­stehen, zu verharm­losen und sogar zu fördern, wenn sie ihn als bloße Spielart des europäi­schen Rassismus sehen, der zuerst die Afrika­ne­rinnen und ‑kaner traf. Thomas Assheuer unter­suchte diese Sicht­weise in einem tiefgrün­digen und genauen Essay in der »Zeit« über »linken Anti­semitismus«.

Antise­mi­tismus ist das Gerücht über die Juden.  So sagte es Theodor W. Adorno. In einer Diskus­sion unter einem »Zeit«-Artikel vom 21.6.2022 über den Documenta-Skandal versuchte sich der Benutzer LuxAeterna an einer Antise­mi­tismus-Defini­tion: „Wenn man [in antise­mi­ti­schen Äußerungen] eine Gemein­sam­keit finden will, dann die, dass es Mächtige gibt, die die Welt unter­drü­cken und die Völker unter ihre Ideologie bringen wollen. Das ist öfter mal der Kapitalis­mus, aber kann auch eine »Homo-Ideologie« sein… Außerdem auch wieder unvoll­ständig, denn die Armen und Asozialen werden ebenso jüdisch gelesen und lassen die Gesell­schaft quasi ‚von innen verrotten‘ und haben mit den Mächtigen wieder nichts gemein. Gemein ist den Erzäh­lungen meist nur eins: die Entmensch­li­chung des »Feindes«. Die Darstel­lung als Schweine oder Dämonen oder Kraken, die die Welt einfangen. Eigent­lich kann man fast nur dann, wenn diese Zeichen auftreten, Antisemi­tismus ganz klar erkennen.“

Ich versuche mal, den höchst umstrit­tenen Komplex ausein­ander zu klamü­sern.

Rassismus gegen Schwächere

Grob kann man sagen: Rassismus richtet sich meist gegen Schwä­chere, während sich Antise­mi­tismus meist gegen vermeint­lich Stärkere richtet. Rassisten sehen in ihrem Objekt Menschen, die dümmer und primi­tiver sind als sie selbst. Dabei führen sie beides – die vermeint­liche Dummheit z. B. schwarzer Menschen und die vermeint­liche Intel­li­genz weißer Menschen – oft auf angebo­rene Eigen­schaften, also auf die Herkunft zurück. Rassismus in diesem Sinne ist entstanden, um die Verskla­vung afrika­ni­scher Menschen durch Araber und Europäer zu recht­fer­tigen. Er ist also eine Ideologie von Herrschern und Ausbeu­tern gegen­über den Beherrschten. Nach diesem ursprüng­li­chen Muster funktio­nierten später auch andere Rassismen, etwa von Englän­dern gegen­über Indern und Chinesen, von Deutschen gegen­über Türken, Italie­nern, Polen, Rumänen oder Sinti und Roma. Ein Sonder­fall ist der deutsche Rassismus gegen­über Russen, weil dort alte Ängste vor Hunnen, Ungarn und Mongolen, vor asiati­schen Nomaden und Erobe­rern einge­flochten sind. Merkwür­di­ger­weise gibt es keinen deutschen Rassismus gegen Dänen oder Schweden, in den die alte Angst vor den Wikin­gern einge­flochten wäre, obwohl schwe­di­sche Heere im Dreißig­jäh­rigen Krieg tatsäch­lich wieder sengend und brennend durch Deutsch­land zogen.

Antisemitismus gegen vermeintliche Herrscher

Antise­miten dagegen sehen in ihrem Hassob­jekt, den Juden, Menschen, die schlauer und geschickter sind als sie selbst und deshalb dabei sind, sich zu Herrschern aufzu­schwingen. Das Sklaverei-Motiv aus dem Rassismus wird hier umgedreht: Antise­miten sehen sich selbst als Sklaven oder poten­zi­elle Sklaven, und in den Juden sehen sie Sklaven­halter oder Leute, die Sklaven­halter werden wollen. Antise­mi­tismus tritt also als Vertei­di­gungs- und Befrei­ungs­be­we­gung auf, er richtet sich gegen einge­bil­dete Herrscher. Da das Herrschafts­ver­hältnis, von dem Antise­miten ausgehen, auf Einbil­dung beruht und real gar nicht vorhanden ist, sind antise­mi­ti­sche Äußerungen oft schil­lernd, diffus und schwer zu packen. Anders beim Rassismus: Der ist platt, bezieht sich auf eine alte Geschichte, die real war und in ihren Folgen immer noch real vorhanden ist. Schwarze sind immer noch arm, werden immer noch diskri­mi­niert; das alles ist real, und zwar auf gesell­schaft­li­cher und ökono­mi­scher Ebene.

Christentum und Judentum

Als christ­li­cher Antise­mi­tismus hat dieser ebenfalls eine lange Tradi­tion, und zwar eine religiöse. In dieser Form richtete er sich gegen eine andere, konkur­rie­rende Religion. Das Chris­tentum war die neue Religion, das Judentum war die ältere. Christen sahen sich gezwungen, sich hart gegen­über dem Judentum abzugrenzen, um die Existenz ihrer neuen Religion zu recht­fer­tigen. Das geschah mit Hilfe von Verleum­dungen: Man verleum­dete die Juden, sie hätten Jesus Christus getötet – absurd, denn Jesus und seine Apostel waren ja selber Juden, und Jesus wurde gar nicht von Juden, sondern von Römern gekreu­zigt. Später verleum­deten Christen die Juden, sie würden gelegent­lich christ­liche Kinder schlachten und deren Blut in ihr Mazze-Brot mischen. Das geschah noch im 19. Jahrhun­dert in Deutsch­land; der junge Heinrich Heine wurde darüber politi­siert.

Wie verhalten sich die Verleum­dungen der Juden durch christ­liche Antise­miten in der Matrix Stärkere|Schwächere? Die frühen Christen waren in den Ländern der Juden und anderswo eine kleine Minder­heit, eine Sekte, die oft von der jüdischen Obrig­keit unter­drückt wurde. Hier fügt sich also der christ­liche Antise­mi­tismus ins beschrie­bene Bild: Er richtete sich gegen Stärkere, gegen Herrschende – in diesem Fall sogar real Herrschende. Doch das änderte sich schon 70 n. Chr. mit der Zerstö­rung des Tempels von Jerusalem durch römische Besatzer. Dadurch verschwand die jüdische Obrig­keit; es gab nur noch die römische Obrig­keit. Die hat das Chris­tentum ebenfalls zunächst unter­drückt. Trotzdem ist daraus kein christ­li­cher Antiro­ma­nismus entstanden, aus zwei Gründen: Es gab schon sehr früh, zu Paulus‘ Zeiten, eine christ­liche Gemeinde in Rom. Rom war die Metro­pole, die die Christen gewinnen wollten, ein christ­li­cher Sehnsuchtsort. Der zweite Grund war, dass der römische Kaiser Konstantin I. anno 336 das Chris­tentum zur römischen Staats­re­li­gion erklärte und bei dieser Gelegen­heit einem Flügel des Chris­ten­tums, den Anhän­gern der Dreifal­tig­keit, zum Sieg über einen anderen Flügel verhalf, den sog. Arianern, die predigten, dass Jesus Christus ein Geschöpf Gottes gewesen sei. Die christ­liche Papst­kirche, die daraus hervor­ging, begrub allen früheren Groll über römische Besatzer, Götzen­diener, Sklaven­halter, Zirkus­be­su­cher und Christen­verfolger und lenkte dessen Restbe­stände wohl gezielt auf die inzwi­schen macht­losen, überall zerstreuten Juden. Nun, da es keine jüdischen Herrscher mehr gab, eigneten sich die Juden offenbar um so besser als Projek­ti­ons­flä­chen für Hass auf fiktive Herrscher.


Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.