„Das Bekenntnis zu Israel gehört zur DNA der Bundesrepublik.“ Eine Dogmenkritik

Im Juni 2022 gab es einen großen Skandal um Antisemitismus auf der Documenta 15 in Kassel. Im Rahmen der vom indonesischen Künstlerkollektiv Ruangrupa kuratierten Ausstellung war auch ein Banner des indonesischen Künstlerkollektivs Taring Padi zu sehen, das über 100 Figuren zeigt, darunter zwei, die sich offenbar negativ auf Israel beziehen und dabei antisemitische Stereotype verwenden. Doch wie ist das Bild insgesamt komponiert? Und was bedeuten die Angriffe für den kooperativen Ansatz der documenta-Künstlerinnen und -Künstler?

Das Banner (hier bei Standard.at ist es ganz zu sehen) ist als Triptychon angelegt: eine linke, eine mittlere, eine rechte Fläche und eine darüber. Rund 40 Figuren in der linken Fläche des Banners repräsentieren die Suharto-Diktatur in Indonesien sowie laut Aufschrift »The Expansion of „Multicultural“ State Hegemony«, also die Expansion der »multikultu­rellen« Staaten-Hegemonie. In dieser Menge befinden sich auch die beiden antisemitisch gestalteten Figuren. Rund 40 Figuren in der rechten Fläche repräsentieren laut Aufschrift das »Resistance Culture Movement«, die kulturelle Widerstandsbewegung der Völker. 7 Figuren sitzen an einem Tisch, der in der Mitte über dem Gewimmel thront. 8 Figuren mit Tierköpfen sind unter dem Tisch hinter Gittern eingesperrt. Weitere teilweise schwer erkennbare Figuren befinden sich in einer farblosen Fläche in der Bildmitte.

Nachdem die antisemitischen Figuren entdeckt worden waren, schwappte innerhalb von zwei Tagen eine riesige Welle der Empörung über die Documenta hinweg. Zahlreiche Kommentatoren fragten sich vor allem, wie es dazu kommen konnte, dass diese Figuren dort gezeigt wurden, wer dafür verantwort­lich gewesen wäre, das zu verhindern, und wer wegen solcher Versäumnisse zurücktreten müsse. Philipp Peyman Engel, Redakteur der »Jüdischen Allgemeinen«, formulierte in einem Gastkommentar im »Focus« (24.6.2022) in diesem Zusammenhang das Dogma: „Das Bekenntnis zu Israel gehört zur DNA der Bundes­republik.“ Deshalb müsse Claudia Roth als auf Bundesebene zuständige Kulturstaats­sekretärin zurücktreten. Sie habe die Documenta Leuten überlassen, die „zum Teil offene Unterstützer des BDS sind oder sich nicht von der Boykottbewegung distanzieren mochten“. Das sind laut Peymann Engel „Künstler mit erwiesenermaßen antisemitischem Weltbild“. Dazu folgende Einwände:

  1. DNA, auf Deutsch DNS, heißt Desoxyribonukleinsäure. Das ist der chemische Stoff, aus dem Chromosomen und Gene sind. DNA ist eine schiefe Metapher, weil das „Bekenntnis zu Israel“ eine kulturelle und soziale Vereinbarung ist. Die ist nicht biologisch vererbt, sondern kann jederzeit geändert werden.
  2. Es bleibt unklar, ob sich das „Bekenntnis zu Israel“ auf den Staat als Ganzes bezieht oder auf die jeweilige Politik der amtierenden israelischen Regierung. Wenn letzteres gemeint ist, wird der inner-israelische Diskurs missachtet.
  3. Richtig ist, dass die Regierung Adenauer schon früh das Bündnis mit Israel gesucht hat und dass alle Folgeregierungen Westdeutschlands daran festhielten. Aber zugleich haben deutsche Beamte, Diplomaten und Richter deutsche Naziverbrecher, deutsche Judenmörder mit allen mafiösen Mitteln geschützt. Sogar Adolf Eichmann wurde von westdeutschen Beamten, Staatsanwälten und Richtern geschützt. Das zeigt, dass das deutsche »Bekenntnis zu Israel« mit real praktiziertem Antisemitismus vereinbar war. Soweit man unter Antisemitismus ein bestimmtes Verhältnis zu den Juden und zur Ermordung von Juden versteht.
  4. Geht es in dem Streit wirklich um das Land Israel mit allen seinen Widersprüchen? Oder geht es den Deutschen in solchen Debatten vor allem um sich selbst und einen Popanz Israel, der im inner­deutschen Streit eingesetzt wird? So sieht es z. B. der israelische Historiker Moshe Zuckermann. Peymann Engels Rücktrittsforderung an Roth und seine Wortwahl »Bekenntnis« deuten in die gleiche Richtung. Demnach handelt es sich offenbar um ein religiöses Gebot, eine Art deutschen Katechismus. Sonja Süß, Kommentatorin der Hessenschau, deutete ungewollt an, wie wenig es im Streit um die Juden ging: Es sei „mehr als ungeschickt, dass die Generaldirektorin der documenta, Sabine Schormann, … bedauerte, dass ,Gefühle verletzt wurden‘. Als sei Antisemitismus ein Befindlichkeitsproblem von ein paar Juden in Deutschland.“ Demnach wäre es geschickter gewesen, wenn Schormann keine Empathie mit Juden geäußert hätte.
  5. Zur BRD gehörten und gehören auch die Kräfte, die aus womöglich guten Gründen Yassir Arafat und die PLO gegen das israelische Militär und gegen militante israelische Siedler unterstützt haben. Man muss das nicht richtig finden, aber Peymann Engel missachtet in seinem Dogma die Vielfalt der Kräfte in Deutschland.
  6. Realer Antisemitismus: Gewaltakte gegen Juden, gegen Synagogen und jüdische Friedhöfe, kamen in Deutschland fast immer von rechts. Das Dogma wurde und wird aber fast immer gegen Linke eingesetzt. Das gibt ihm einen unglaubwürdigen, verlogenen Charakter.
  7. Peymann Engel verwies auf die Israelboykotteure der Bewegung BDS. Hat Ruangrupa israelische Künstlerinnen und Kümstler boykottiert? Auf der hier veröffentlichten Liste von rund 1500 teilnehmenden Künstlys befinden sich nach meiner stichprobenhaften Prüfung viele Araber, viele Deutsche, viele Türken und etliche Niederländer, aber keine Israelis. Allerdings auch keine Amerika­ner, Briten und Franzosen. Niederländer sehr wohl, obwohl die Niederlande Kolonial­macht in Indonesien waren. Nach den BDS-Debatten im Vorfeld hätte es nahegelegen, auch ein israelisches Kollektiv einzuladen.
  8. Müssen Israelboykotteure boykottiert werden? Müssen auch diejenigen boykottiert werden, die sich weigern, Israelboykotteure zu boykottieren? Hier geht es offenbar nur noch um Macht­demonstrationen und Unterwerfungsgesten im Rahmen eines irrationalen Glaubenskriegs, in dem auf beiden Seiten eine Art Inquisition zugange ist.

Sonja Süß schrieb am 21.6.2022 in der Hessenschau: „Antisemitismus ist keine unbequeme Meinung oder künstlerische Freiheit, sondern ein Problem und im Zweifel ein Verbrechen. Es geht nicht um Zensur von Kunst, sondern darum, niemanden öffentlich zu diffamieren und herabzuwürdigen.“

Sie übersah, dass Zensur in der Regel genau so begründet wurde und wird: Verboten wird etwas, das nach Meinung des Zensors jemanden diffamiert oder herabwürdigt. Als die Nazis im April 1933 die Bücher von Erich Maria Remarque und Ludwig Renn ins Feuer warfen, begründeten sie das damit, die Autoren hätten das Andenken der deutschen Soldaten im Weltkrieg herabgewürdigt. Als ein Londoner Zensor im Januar 1934 eine Theateraufführung von Ferdinand Bruckners Drama »Die Rassen« verbot, begründete er das damit, das Stück sei geeignet, ein befreundetes Land (nämlich das von Hitler regierte Deutschland) herabzuwürdigen.[1] Als der deutsche Schauspieler Gustaf Gründgens und sein Adoptivsohn jahrzehntelang die Veröffentlichung von Klaus Manns Roman »Mephisto« gerichtlich verbieten ließen, taten sie das mit der Begründung, der Roman verunglimpfe ihn bzw. das Andenken des Verstorbenen.

Sonja Süß übersah zudem, dass es keine Kunst gibt, die niemanden diffamiert. Die aggressive Wendung gegen bestimmte Personen und Personengruppen ist seit jeher ein wesentliches Motiv für Künstlerinnen und Künstler, sich künstlerisch zu äußern. Man beschönigt das meist als »Provokation«. Als Joseph Beuys dazu aufrief, die Stadt Kassel mit 7000 Eichen zu bewalden, richtete sich diese Aktion ausdrücklich gegen die Stadtverwaltung. Beuys provozierte und diffamierte mit seinen Eichen und seinen Basaltstelen Beamte der Straßenbauverwaltung, Geschäftsleute und Lokalpolitiker, denen Park­plätze und „saubere Straßen“ wichtiger waren als Bäume in der Stadt. Die Betroffenen haben das sofort gespürt und entsprechend bockig reagiert. So aber wird es auch gewesen sein, als die Taring-Padi-Leute ihr übergroßes Triptychon malten.

Keine Zensur? Was ist es denn anderes, wenn im Nachhinein gefordert wird, die Kuratoren oder die Leitung der Documenta hätten das Bild von der Ausstellung ausschließen müssen? Doch, es ist richtig, was Taring Padi in seiner ersten Stellungnahme gesagt hat: Ein Dialog ist offenbar unmöglich. Für einen Dialog müsste das Banner hängen bleiben und kritisiert werden. Dann könnten wir die Künstler von Taring Padi fragen, warum sie diese üblen Figuren eingebaut haben. Was bedeutet ein israelischer Soldat mit Davidstern für sie? Wie kommen sie darauf, Schläfenlocken, also ein äußeres Zeichen orthodoxer Juden, mit Kapitalistentum gleichzusetzen? Hat Israel Suharto unterstützt? War Israel eine Kolonialmacht?

Die auf der documenta 15 in Kassel gezeigten Kunstwerke sind Produkte von Künstlerkollektiven. Das Konzept ihrer Zusammenarbeit nennt sich Lumbung, nach einer indonesischen kollektiven Reisscheune (hier erläutert).

Fast alle deutschen Journalisten kennen dazu nur noch eine Einschätzung: Scherbenhaufen! Krachend gescheitert! 

Wenn 1500 Künstlerinnen und Künstler in kollektiven Prozessen rund 10.000 Werke geschaffen haben, wenn eines dieser Werke rund 100 Figuren zeigt, und wenn zwei dieser Figuren antisemitische Klischees transportieren, die ich hasse – heißt das für mich, dass ich nun die komplette documenta hassen muss? Heißt das für mich, dass ich kollektive Entscheidungsprozesse von nun an verwerfen muss? Heißt das für mich, dass eine Kunstausstellung in Deutschland ein Schiff ist, das einen Kapitän braucht, der weiß, wo die Eisberge sind? Ist es das, was die deutschen Journalisten mir sagen wollen?

Andreas Fanizadeh in der taz 25.6.2022, fand, wie andere auch, außer »People’s Justice« noch genau ein weiteres Kunstwerk in Kassel, das man antiisraelisch, mit Müh und Not auch antisemitisch deuten kann: »Guernica Gaza«. Und schon kann er urteilen: „Es sind also nicht einzelne Ausrutscher, die hier wehtun. Es ist die Systematik.“ Zwei Bilder von Zehntausend machen also eine Systematik. „Den größten Schaden an dem reaktionären Kunst- und völkischen Politikverständnis der hinter Ruangrupa agierenden und international vernetzten deutschen Kulturfunktionäre…“ „…wo die Individualität zugunsten einer anonymen Kollektivität ausgelöscht wird, die individuelle Urheberschaft unsichtbar und enteignet wird, erfolgt tatsächlich, wie jetzt in Kassel zu beobachten, der Übergang in eine totalitäre Haltungs- und Verantwortungslosigkeit.“

Könnte man die Entschuldigungen von Taring Padi und Ruangrupa nicht einfach akzeptieren?

Tatsache ist, dass wir es versäumt haben, die Darstellung, die klassische antisemitische Stereotype transportiert, in der Arbeit zu erkennen. Das war unser Fehler. (…) Die Bildsprache knüpft, wie wir jetzt in Gänze verstehen, nahtlos an die schrecklichste Episode der deutschen Geschichte an, in der jüdische Menschen in einem noch nie dagewesenen Ausmaß verfolgt und ermordet wurden. Es ist ein Schock, nicht nur, aber insbesondere für die jüdische Gemeinde in Kassel und in ganz Deutschland, die wir als unsere Verbündeten betrachten…

Stellungnahme von ruangrupa, 23.6.2022

Die von uns verwendete Bildsprache ist jedoch nie aus Hass gegen eine bestimmte ethnische oder religiöse Gruppe entstanden, sondern als Kritik an Militarismus und staatlicher Gewalt gedacht. Wir bedauern, dass wir eine mögliche Beteiligung der Regierung des Staates Israel so völlig unangemessen dargestellt haben – und entschuldigen uns aufrichtig dafür. Antisemitismus hat weder in unseren Gefühlen noch in unseren Gedanken einen Platz.

Stellungnahme von Taring Padi, 24.6.2022

Die Ethnologin Vanessa von Gliszczynski ging in FR 14.7.2022 der Frage nach, wie antisemitische Stereotype in die indonesische Aktionskunst eingegangen sein können.


[1]     Joseph Wulf: Kultur im Dritten Reich. Theater und Film, S. 269; haGalil.com 18.4.2001 (Monika Ziegler)

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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