„Wer arbeiten will, findet auch Arbeit.“ – „Darf ich Sie mal was fragen?“

Wir belau­schen ein Leistungs­trä­ger­ge­spräch am Neben­tisch. Die Herren sind gut gekleidet, gepflegt, kennen die Welt und ihre Pappen­heimer und sind sich einig: »Wer arbeiten will, findet auch Arbeit.«

Was soll man darauf antworten? Zum Beispiel das: „Nur darf man nicht gerade zu dem kommen, der diesen Satz spricht; denn der hat keine Arbeit zu vergeben,und der weiß auch niemand zu nennen, der einen Arbeiter sucht.

Darum gebraucht er ja gerade diesen Satz, um zu beweisen, wie wenig er von der Welt kennt.“ Diese Antwort gab der Schrift­steller B. Traven 1927 im ersten Kapitel seines Romans Der Schatz der Sierra Madre. Man muss das heute etwas präzi­sieren: Natür­lich kennt immer einer in der Runde einen Fall, in dem ein Unter­nehmer angeb­lich monate­lang vergeb­lich einen Arbeiter oder eine bestimmte Fachkraft gesucht hat. Persön­lich aller­dings kennt der Betref­fende in der Regel keinen solchen Unter­nehmer. Was den Verdacht nahelegt, dass es sich immer um die gleiche Geschichte handelt, die der eine Selbst­ge­rechte vom anderen gehört hat und ebenso munter wie ungeprüft weiter­erzählt …

Ich kenne auch eine Geschichte. Ein mir bekannter freibe­ruf­li­cher Infor­ma­tiker hat sich die Stellen­an­zeigen für Infor­ma­tiker genauer angeschaut und stößt dabei immer wieder auf völlig wider­sprüch­liche oder unver­ständ­liche Details in den Anfor­de­rungen, die an Bewerber gestellt werden. Sie sollen zum Beispiel Spezia­listen auf drei Gebieten zugleich sein, die fachlich sehr weit ausein­ander liegen. Der Betrieb braucht eigent­lich drei Infor­ma­tiker, will aber nur einen einstellen. Entweder bemerken die Perso­nal­ab­tei­lungen in vielen Unter­nehmen diese Wider­sprüche nicht oder sind so beden­kenlos, dass sie die Wider­sprüche nicht bemerken wollen. Da niemand ihre abstrusen Anfor­de­rungen erfüllen kann, kommen auch keine Bewer­bungen. Und schon hört man die Perso­naler schreien: »Seht den Fachkräf­te­mangel! Arbeits­lose Infor­ma­tiker und Ingenieure? Gibt es nicht. Wer sich so nennt, will bloß nicht arbeiten.«

Vom Einzel­fall zum Allge­meinen: Laut Umfragen, die die Jobcenter durch­ge­führt haben, sagen 75 Prozent der Empfänger von Arbeits­lo­sen­geld II: »Arbeit ist das wichtigste in meinem Leben.« Vermut­lich nimmt die Sehnsucht nach Selbst­be­stä­ti­gung durch Arbeit sogar zu, wenn man keine hat. 62 Prozent der arbeit­suchenden Unter­stüt­zungs­emp­fänger bewerben sich aktiv um Stellen, und 71 Prozent sind bereit, Arbeit anzunehmen, für die sie überqua­li­fi­ziert sind.[1]

Noch eine Geschichte aus Consul­ti­stan: Ein 55-jähriger Compu­ter­ver­käufer, der nach fast dreißig Jahren Tätig­keit von seinem Betrieb entlassen wurde und seitdem, trotz zahlrei­cher Bewer­bungen, arbeitslos ist, pflegt den »Wer-arbeiten-will«-Satz kühl mit dem Hinweis zu kontern: »So lange du dich im Fachhandel kostenlos beraten lässt und dann nach Hause gehst und das Gerät im Internet bestellst, gibt’s keine Stellen für mich; so lange muss ich wohl oder übel auf Kosten der Gemein­schaft leben.«

Ihr Wider­spruch ist die Gegen­frage, frei nach B. Traven:

Welchen bezahlten Job haben Sie denn zu vergeben?


[1]        www​.jobcenter​-ichbingut​.de, 2014

[Origi­nal­bei­trag aus dem Buch (2015). Nur das Antidogma wurde geändert.]

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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