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Deutschland gespalten? Das ist gar nicht so.

Der Journa­list und Sozio­loge Jürgen Kaube, Mitheraus­geber der FAZ, veröffent­lichte 2022 das Buch »Die gespal­tene Gesell­schaft« und sprach darüber am 12. November 2022 mit dem WDR3 »Mosaik«. Darin bestä­tigt er meine Sicht­weise auf Paral­lel­ge­sell­schaften: Wenn die Migran­ten­viertel in Essen-Katern­berg Paral­lel­ge­sell­schaften sein sollen, dann sind auch die Villen­viertel in Essen-Bredeney Parallelgesell­schaften.

Die »Migran­ten­viertel« haben in der Regel weiterhin eine Mehrheit von Einge­bo­renen. Sie sind ethnisch alles andere als homogen, sondern umfassen oft Dutzende von unter­schied­li­chen kultu­rellen Hinter­gründen, die nur durch den Sehschlitz einer deutsch­na­tional-rassis­ti­schen Ritter­rüs­tung betrachtet wie eine einheit­liche »Auslän­der­masse« erscheinen. Wichtig auch: Viele Menschen mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund versu­chen, die Wohnviertel ihrer Kindheit zu verlassen. Die Separie­rung nach Herkünften wird also ständig wieder aufge­hoben.

Ein Amazon-Rezen­sent meines Buches fand mein Antidogma über Paral­lel­ge­sell­schaften beson­ders absurd und verwies als Begrün­dung auf »Ehren­morde«. Er übersah, dass Morde in Essen-Katern­berg ähnlich selten sind wie in Essen-Bredeney oder ‑Rütten­scheid. Wenn doch mal einer passiert, dann heißt er in Katern­berg »Ehren­mord«, in Bredeney oder Rütten­scheid »Famili­en­drama«. Gemeint ist jeweils das gleiche: Ein in seiner grenzen­losen Eitel­keit gekränkter Mann hat die Frau getötet, die ihn gekränkt hat. Dieses Muster hat wenig mit Religion und Natio­na­li­täten und viel mit dem omniprä­senten Patri­ar­chat zu tun.

Das Gute an den vielen Strei­te­reien in einer Gesell­schaft ist, so Kaube, dass die Fronten nicht parallel verlaufen, sondern sich ständig kreuzen: Wer im Streit ums Impfen mein Gegner ist, ist im Streit um Atomkraft vielleicht mein Verbün­deter. Dazu kommen Hunderte von Streit­themen, die sich gar nicht politi­sieren oder ideolo­gi­sieren lassen. Deshalb halten wir, sagt Kaube, gerade im Streiten zusammen, zumin­dest so lange wir bestimmte insti­tu­tio­nelle Formen wie Wahler­geb­nisse, Parla­ments­be­schlüsse und Gerichts­ur­teile respek­tieren.

Siehe dazu auch meine Kritik am Dogma “Einig­keit macht stark”.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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