Zwölf Ideen für die Revolution 2019, Baujahr 1919

Im Februar 2019 habe ich, um des hundertsten Jubiläums der deutschen Novemberrevolution zu gedenken, in Bielefeld eine Lesung von Texten damaliger Revolutionärinnen und Revolutionäre veranstaltet. Im Anhang meines Textbuches habe ich versucht, Ideen dieser Menschen auf die heutige Zeit anzuwenden. Herausgekommen sind zwölf Betrachtungen:

  1. Exportweltmeister? Kein Grund, stolz zu sein (nach Kurt Tucholsky)
  2. Arbeiten oder Schuften? (nach Kurt Tucholsky)
  3. Arbeitslose, aufgepasst! (nach Ret Marut al. B. Traven)
  4. Aufrüstung als epileptischer Anfall (nach Hugo Haase)
  5. Gewalt kann nichts Heiliges schaffen (nach Ernst Toller)
  6. Zahlen sind oft ziemlich dumm (nach Alfons Goldschmidt)
  7. Empathie kommt aus der Distanz heraus (nach Gustav Landauer)
  8. Warum der NC eine saublöde Idee ist (nach Kurt Eisner)
  9. Macht ohne Geist ist hohl (nach Klabund)
  10. Revolution ist Schwesternsache (nach Rosa Luxemburg)
  11. Politik ist Kunst, und Kunst ist Radau (nach Kurt Eisner und Richard Huelsenbeck)
  12. Lebenskunst für Regimekritikerinnen (nach Rosa Luxemburg, Erich Mühsam, Hannah Arendt)

Exportweltmeister? Kein Grund, stolz zu sein

Schon nach dem I. Weltkrieg machten sich Deutschnationale die Hoffnung, „die ›Pionierarbeit des deutschen Kaufmanns‹ werde uns ›schon herausreißen‹“ aus dem Elend der Niederlage. Der Journalist und Dichter Kurt Tucholsky kommentierte das 1919:

„Aber schon regen sich die Stimmen, die dem Deutschen einzureden versuchen, es werde, wenn er nur billige Ware liefere, sich Alles einrenken lassen. Das wollen wir nicht! Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle andern unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete.“

Kurt Tucholsky: Wir Negativen (1919)

In der Tat: eine merkwürdige Idee, seinen Stolz daraus abzuleiten, dass man sich besonders effizient ausbeuten lässt und deshalb zu Dumpingpreisen produzieren kann, die im Ausland alle Konkurrenten unterbietet. Seit wann haben Billigheimer ein gutes Ansehen? Genauso ging nach dem II. Weltkrieg die Rede, und in den 2000er Jahren ging es schon wieder los: „Wir müssen konkurrenzfähig bleiben auf dem Weltmarkt! Unsere Löhne und Sozialleistungen sind zu hoch! So wird das nix!“ So tönten damals Sinn, Miegel, Rürup und Konsorten. Nur Zwerge sind stolz auf die Knute, vor der sie buckeln. Ist es nicht ohnehin eine seltsame Idee, dass es besonders ehrenvoll sei, Dinge zu produzieren, die wir gar nicht selber nutzen können, weil sie ins Ausland verkauft werden? Doch der Glaube an die wirt­schaftliche Allmacht des Exports ist ungebrochen. ­

Arbeiten oder Schuften?

Interessant ist auch Tucholskys Unterscheidung zwischen Arbeiten und Schuften. Noch mal sein Satz: „Wir wollen nicht mehr benutzt sein, weil unsre jungen Leute im Ausland alle andern unterboten haben, und weil man bei uns schuftete, aber nicht arbeitete.“ Die deutsche Art zu arbeiten hat tatsächlich oft etwas von Schuften, also von einer Anstrengung ohne Sinn und Verstand. Was dabei herauskommt, ist egal. Wichtig scheint nur zu sein, dass es richtig weh tut. Dass etwas weh tut, scheint ein Indiz dafür zu sein, dass es sich verkaufen lässt. Das passt zum Arbeiten bzw. Schuften für den Export. Wenn der Nutzen der Produkte keine Rolle spielt, weil sie eh exportiert werden, verlieren wir den Bezug zwischen Arbeit und Arbeitsprodukt.

Arbeitslose, aufgepasst!

Ziemlich genial ist der Konter zu dem immer noch gerne kolportierten Dumm­schwätzerspruch „Wer arbeiten will, findet auch Arbeit“, den der Schriftsteller B. Traven, zuvor als Schauspieler und Publizist Ret Marut bekannt, 1927 in seinem berühmtesten Roman fand:

„Aber wer arbeiten will, der findet Arbeit. Nur darf man nicht gerade zu dem kommen, der diesen Satz spricht; denn der hat keine Arbeit zu vergeben, und der weiß auch niemand zu nennen, der einen Arbeiter sucht. Darum gebraucht er ja gerade diesen Satz, um zu beweisen, wie wenig er von der Welt kennt.
Dobbs würde Steine gekarrt haben, wenn er solche Arbeit bekommen hätte. Aber selbst diese Arbeit bekam er nicht, weil zu viele da waren, die auf die Arbeit warteten, und die Eingeborenen immer mehr Aussicht hatten, sie zu bekommen, als ein Fremder.“

B. Traven: Der Schatz der Sierra Madre (1927), 1. Kapitel

Fragen Sie also den Dummschwätzer einfach: OK: Welchen Job haben Sie denn zu vergeben? Keinen? Aber Sie kennen doch sicher jemanden persönlich, der mir einen Job geben kann?

Aufrüstung als epileptischer Anfall

Das Bild, das der Sozialdemokrat Hugo Haase, unter Berufung auf den britischen Liberalen und Schatzkanzler David Lloyd George, von der Aufrüstung in den Jahren vor dem I. Weltkrieg entwarf, hat es in sich:

„Die ungeheueren Ausgaben für die Rüstungen sind eine Bürde für die nationale Tatkraft, sie beschränken den Staat in seiner Tätigkeit für dringende soziale Bedürf­nisse. Ganz bedeutende Werte, die für weit bessere Zwecke frei werden würden, werden diesen durch die epileptischen Anfälle von Militarismus entzogen, die von Zeit zu Zeit die zivilisierte Welt befallen.“

Hugo Haase: Gegen das Wettrüsten (1912)

Diese Sichtweise unterscheidet sich vom gleichzeitig entstandenen Imperialismus­konzept Lenins. Haase betonte die irrationale, die wahnhafte Seite, während Lenin das plan­mäßige Vorgehen einer bestimmten Gruppe von Unternehmern und Machthabern betonte. Wer mehr Recht hatte, ist schwer zu sagen.  Haases Deutung lässt mehr politischen Spielraum zu: Diese epileptischen Anfälle widersprechen nämlich auch den ökonomischen Interessen der meisten Unternehmen. Wir haben als Pazifisten also die Chance, mächtige Bündnispartner zu gewinnen. Das sog. 2-Prozent-Ziel der NATO-Führung ist ein aktuelles Beispiel für einen solchen epileptischen Anfall. 2 % des Bruttoinlandsprodukts für Rüstung – das bedeutet für Deutschland z. B., dass sich der Anteil der Rüstungsausgaben am Bundeshaushalt verdoppeln müsste, von rund 10 auf über 20 %. Ein Bundestag, der das macht, hat praktisch keine Chance mehr, einen Kohleausstieg zu finan­zieren, die Pflege aufzuwerten oder auch nur all die kaputten Brücken zu reparieren. 

In der Kontroverse zwischen Haase und dem Reichskanzler Bethmann Hollweg, der den deutschen Aufrüstungskurs politisch verantwortete, spiegelt sich die große Rolle von Emotionen wie Ruhmsucht und von Glaubenssätzen wider. Haase 1912:

„Wenn der Herr Reichskanzler erklärt hat, das Ansehen unseres Reichs würde gesteigert, wenn sein Heer und seine Flotte größer würden, so erkläre ich demgegenüber, dass das Ansehen in den Augen der anderen Völker am meisten durch friedliche Taten deutscher Kultur gehoben werden kann…“

Hugo Haase: Gegen das Wettrüsten (1912)

Dabei sprachen die beiden offensichtlich aneinander vorbei: Haase ging es tatsächlich um das Ansehen Deutschlands bei anderen Völkern; Bethmann ging es vor allem um ein autistisches Ansehen, das die Deutschen von sich selbst haben sollten.

Wichtig zu wissen: Aufrüstungs- und Kriegspropaganda geht stets von einer Minderheit aus; auch von einer Minderheit der Machthaber, einer Minderheit der Privilegierten sowie einer Minder­heit der Klein­bürger. Das ändert sich erst, wenn der Krieg tatsächlich ausbricht. Bis es soweit ist, haben die Kriegsgegner so gut wie immer die Mehrheit hinter sich und sollten entsprechend selbstbewusst und entschieden auftreten.

Gewalt kann nichts Heiliges schaffen

In seinem Drama »Masse Mensch« gestaltete Ernst Toller 1919/20 den Widerspruch zwischen der Masse und dem Einzelmenschen, und zwar im Hinblick auf die Frage, wer ein revolutionäres Subjekt sein kann. Der Mensch wird vertreten durch eine Frau, die aus dem Bürgertum stammt und zur Anführerin eines Streiks der Arbeiter wird. Sie versucht, einen gewaltlosen Kampf gegen die Ausbeuter zu organisieren. Ihr Gegenspieler ist »der Namenlose«, der plötzlich in der Versammlung der Arbeiter das Wort ergreift und sie zum bewaffneten Aufstand aufwiegelt. In einer Schlüsselszene streiten die beiden.

die Frau:                    Mensch ist nackt.

der Namenlose:        Masse ist heilig.

die Frau:                    Masse ist nicht heilig. / Gewalt schuf Masse.

Ernst Toller: Masse Mensch (1919)

Die Frau ahnt, dass ein bewaffneter Aufstand aussichtslos ist und in einem Blutbad enden wird. So kommt es dann auch; der Namenlose – offenbar ein Agent provocateur – verschwindet; die Frau wird als Rädelsführerin verhaftet und zum Tode verurteilt. Ihr Streit aber, der zuvor auf der Bühne der Arbeiterversammlung ausgetragen wurde, behandelt eine zentrale Frage, die immer wieder aufkommt. Der Namenlose wirft der Frau vor, als Bürgerliche habe sie die brutale Gewalt der Ausbeutung gar nicht selbst erfahren. So versucht er, sie vor der Masse der Arbeiter zu delegitimieren. Er konstruiert eine Heiligkeit der Masse, die er aus der Brutalität der erlittenen Ausbeutung ableitet – aus ihrem Martyrium. Der Frau spricht er diese Heiligkeit ab. Die Frau erwidert: Die durch Gewalt­akte geschaffene Masse kann nicht heilig sein. Heilig kann nur die Freiheit der Einzel­menschen sein, also das, was die Revolu­tionäre erst erstreben. Die Gewalt soll ja gerade überwunden werden – wie kann sie der Maßstab für Heiligkeit sein? Der Namenlose leitet die Heiligkeit aus einer düsteren Vergangenheit ab, die Frau aus einer leuchtenden Zukunft.

Eine ähnliche Konstellation herrschte bei vielen Diskussionen der 1980er Jahre zwischen Pazifisten und ehemaligen Soldaten des II. Weltkriegs. Diese sprachen den Pazifisten jedes Recht ab, über Krieg und Frieden zu sprechen – denn sie waren ja nicht »dabeigewesen«; sie hatten nie selber auf einen Russen geschossen. Ihre eigene Brutalität, ihren eigenen Blick durchs Scheren­fernrohr auf die Welt verkauften die Ex-Soldaten als heilige »Realpolitik«. Die Suche der Pazifisten nach einem Ausweg aus Kriegsgefahr und Aufrüstung verleumdeten sie als minder­wertige Spinnerei von »weltfremden Idealisten«.

Nein, mein Herr! Ein Heiliger schaut nicht durch ein Scherenfernrohr. Ein Heiliger sieht das Kleine, und er sieht es aus der Nähe.

Nach Ernst Toller: Masse Mensch (1919/20), Siebtes Bild

Zahlen sind oft ziemlich dumm

Der Kölner Mathematiker Gerd Bosbach und ich schrieben 2011 das Buch »Lügen mit Zahlen – Wie wir mit Statistiken manipuliert werden«. Darin befindet sich auch ein Kapitel, in dem ich diverse Philosophen und Gelehrte über den »Kult der Zahl« diskutieren lasse. Leider fehlt in dieser munteren Schar der linkssozialistische Wirtschaftswissenschaftler Alfons Goldschmidt, der im Oktober 1918, kurz vor Kriegsende, einen Essay über den »Unfug der Zahl« im I. Welt­krieg geschrieben hat. Goldschmidt:

„Es ist ja so furchtbar einfach: man nimmt eine Gesamt­produktion und verteilt sie auf den Kopf der Bevölkerung. Dann hat sofort jeder Mann und jede Frau, was sie brauchen. Sie haben Anzüge und Kleider, sie haben Stubenwärme und Fische, sie haben Brot, Fleisch, Butter und Käse. Mit diesen Zahlen hielt man durch, man feuerte an mit ihnen und war sehr erstaunt, wenn es anders kam.“

Alfons Goldschmidt: Der Unfug der Zahl (1918)

Goldschmidt erkannte zwei Hauptprobleme statistisch begründeter Urteile: Die angeführten Zahlen sind stets nach einem Interesse ausgewählt; andere Zahlenverhältnisse, die vielleicht wichtiger sind, wurden aus der Betrachtung ausgeblendet. Etwa 1916/17 Anzahl und Wirt­schafts­kraft der Amerikaner als Kriegsgegner der Deutschen. Und selbst, wenn man alle relevanten Zahlen hätte, wären sie immer noch erst die halbe Wahrheit: Denn so etwas wie die Kraft, die Menschen in bestimmten Situationen aufbringen können, hängt stark von Haltungen und Emotionen ab, vom »Herzen«, wie Goldschmidt es nennt – und das ist nicht messbar.

Empathie kommt aus der Distanz heraus

An seine Betrachtung unserer Fähigkeit, uns in einen flötenden Pirol hineinzuversetzen oder in einen Hund, der sein Beinchen hebt,  knüpft der Münchener Schriftsteller und Sozialist Gustav Landauer die These an, dass solche Empathie nur möglich sei, so lange wir mit den „Tierchen“, die wir da so wohlwollend beobachten, weiter nichts zu tun hätten. Sobald egoistische Aspekte ins Spiel kommen, ist meist Schluss mit lustig. Landauer überträgt das auf den Umgang der Menschen miteinander, vor allem mit fremden Völkern, und kommt zu dem Schluss:

„Die Menschen haben es noch nicht gelernt, so miteinander zu tun zu haben, als ob sie nichts miteinander zu tun hätten. Die Kunst und Einrichtung des gegenseitigen In-Ruhe-Lassens muss gelernt und geschaffen werden; eher wird es keinen Völkerbund und keine Menschheit geben.“

Gustav Landauer: Von der tierischen Grundlage (1918)

Ein interessanter Gedanke, der unserer Abneigung gegen Gleichgültigkeit[1] zu wider­sprechen scheint. Landauer meinte mit der egoistischen Sicht auf andere Völker z. B. die überhebliche Ansicht, wir hätten als Europäer die Pflicht, diesem Volk die Zivilisation beizubringen, oder die Furcht, jenes Volk wolle uns heimtückisch ausnutzen oder gnadenlos auskon­kurrieren. Beides ist gerade wieder sehr in Mode. Könnten wir doch die Araber einfach in Ruhe lassen! Dann könnten wir uns auch an ihren wunderbaren Moscheen, ihrer Kalligraphie oder ihrer Demut erfreuen, mit der sie jede Zukunftsprognose ausdrücklich in die Hand Gottes legen.

Bildung: Warum der NC eine saublöde Idee ist

Der Sozialdemokrat Kurt Eisner setzte sich schon 1896 mit der Frage auseinander, ob der Zugang zu staatlich finanzierten Bildungseinrichtungen sinnvoll nach irgendwelchen speziellen Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, Studentinnen und Studenten beschränkt werden könne – zumal in einer gedachten sozialistischen Zukunftsgesellschaft, die das Konkurrenzprinzip ja gerade abschaffen will. Eisner sagt klar und deutlich: Nein, der Zugang darf nicht nach irgendwelchen Noten oder Testergebnissen beschränkt werden. Denn:

„In der ungeheuren Mannigfaltigkeit der Fähigkeiten sind es keineswegs die wertvollsten Quali­täten, die in dem an schulmäßige Organisationen gebundenen geistigen Wettbewerb die stärksten sein würden. Der Zufall des Besitzes würde dann zwar … beseitigt sein, an seine Stelle würde der Zufall des Besitzes ganz bestimmter im geistigen Wettkampf überlegener Fähigkeiten treten und damit abermals eine höchst unnatürliche Auslese entstehen…“

Kurt Eisner: Um Manchester (1896)

Eisner hat also vorausgesehen, dass die Fähigkeit, in fast allen Fächern sich eine Eins zu organisieren, oder in einer extrem stressigen Testsituation schnell die richtige Antwort auf eine abstrakte Frage anzukreuzen, nicht die Fähigkeit ist, die eine gute Ärztin, einen guten Arzt ausmacht. Und natürlich, dass der Wettlauf um Einsen null komma nix mit Sozialismus zu tun hat.

Aber bedeutet das nicht eine schreckliche Gleich­macherei à la Huxley? Keineswegs, so Eisner:

„Die Differenzierung und Individualisierung ist Sache des Einzelnen… Individuelle Steigerung entzieht sich schulmäßigem Betrieb, sie ist Kunst, Vereinzelung, die einzige wahrhaft natürliche Auslese… Dort auf der Höhe, jenseits der Gemein­schaft und ihrer Einrichtungen, oberhalb der Massen­vegetations­grenze hebt erst das freie Spiel der Kräfte an, das nun nicht mehr gesell­schafts­feindlich wirken kann, weil es sich außerhalb der Gesellschaft mit ihren Rechten und Pflichten tummelt, im unumschränkten Machtbereich des Individuums.“

Kurt Eisner: Um Manchester (1896)

Worunter er sich wahrscheinlich ein individuelles Verhältnis zwischen Schüler*in und Meister*in vorgestellt hat, wie in einer Akademie.

Macht ohne Geist ist hohl

„Die Macht ist ein tönerner Götze, wenn Geist, Güte und Gerechtigkeit nicht mit ihr verbunden. Endgültig muß es vorbei sein mit den Prinzipien der Macht und ihren »Unter­gebenen«: Herrschsucht, Hoffart, Polizeigeist, Götzen­dienerei, Byzantinismus, Mammo­nismus…“

Klabund: Offener Brief an Kaiser Wilhelm II. (1917)

Also sprach der Schriftsteller Klabund 1917 in seiner Ansprache an Kaiser Wilhelm II. Bei diesem Adressaten war seine Rede sicher verschwendet, aber wenn wir sie in die heutige Zeit weiter­klingen lassen, wirft sie die alte Frage nach dem Verhältnis von Macht und Geist wieder auf. Es ist nicht mehr üblich bei uns, von Macht zu sprechen, und es ist nicht mehr üblich, von Geist zu sprechen. Aber es könnte eine gute Idee sein, mit beidem wieder zu beginnen. Statt von Macht spricht man eher von Einfluss, von Hegemonie oder von Dominanz. Statt von Geist spricht man von Spirit, von Commitment, von Werten, von Überzeugung. Gemeint ist jeweils das gleiche. Die alten deutschen Worte waren kürzer und prägnanter als die heute üblichen. Aber sie kommen uns irgendwie übertrieben oder pathetisch vor. Egal – es bleibt bei Klabunds Aussage, dass reale, handfeste Macht stets daran gebunden ist, dass ihr Träger einen klar definierbaren Geist, eine Über­zeugung hat und äußert, die von seinen Anhängern geteilt wird. Den gleichen Gedanken äußerte 1970 Hannah Arendt.[3] Das war leider auch so, als Hitler 1933 an die Macht lanciert wurde. Sein Geist war mörderisch, er war bar jeder Güte oder Gerechtigkeit, aber es war ein Geist. Und der ergriff alle seine Anhänger. Ist es einmal so weit gekommen, ist es nicht mehr ratsam, Widerstand zu leisten.

Beim Rausschmeißer [Trump] und ähnlichen Protzbolzen wie Berlusconi, Bolsonaro, Kaczynski, Orbán dagegen ist kein Geist zu erkennen. Mit Klabund zu sprechen: Sie bersten vor Herrschsucht, Hoffart, Byzantinismus und Mammonismus. Sie sind also tönerne Götzen; man kann sie wahrscheinlich mit einem kräftigen Hammerschlag zum Einsturz bringen. Ach, hätte Hillary Clinton doch ihrer Sponta­neität freien Raum gegeben in jener Fernsehdebatte, als der Rausschmeißer, während sie sprach, plötzlich aufstand und hinter ihrem Stuhl herumtigerte! Wäre sie in diesem Moment aufgestanden und hätte ihn angezischt: »Verpiss dich, du Eckenpisser!« Die Heimsuchung wäre der Welt wohl erspart geblieben.

Revolution ist Schwesternsache

Die Sozialistin Rosa Luxemburg stellte 1912 in ihrer Betrachtung über die gesellschaftliche Rolle von bürgerlichen und von proletarischen Frauen fest:

„…Millionen von proletarischen Frauen schaffen heute kapitalistischen Profit gleich Männern – in Fabriken, Werkstätten, in der Land­wirt­schaft, in der Hausindustrie, in Büros, in Läden. Sie sind also produktiv im strengsten wissenschaftlichen Sinne der heutigen Gesellschaft. Jeder Tag vergrößert die Scharen der kapitalistisch ausgebeuteten Frauen, jeder neue Fortschritt in der Industrie, in der Technik schafft neuen Platz für Frauen im Getriebe der kapitalistischen Profitmacherei…“

Rosa Luxemburg: Frauenwahlrecht (1912)

Wir haben zwar heute kein Proletariat mehr im damaligen Sinn, und auch der Begriff Arbeiterklasse führt heute in die Irre. Und doch lässt sich Rosas Einschätzung auf die aktuelle Entwicklung unseres Wirtschaftssystems übertragen: In einer Wissens- und Dienstleistungs­gesellschaft werden traditionelle und neuere Frauenberufe wie Ärztin, Kranken- und Alten­pflegerin, Lehrerin, Erzieherin, Sekretärin, Assistentin, Beraterin, Verkäuferin, Putzfrau immer wichtiger und immer unentbehrlicher. „Alle Räder stehen still, wenn dein starker Arm es will?“ Nein, das ist vorbei. Der Status der Industriearbeiter hat sich in der Dienstleistungs­gesellschaft überlebt und steht auf tönernen Füßen. Es sind längst andere, von denen Wohl und Wehe unserer Gesellschaft maßgeblich abhängen. Wenn Stahlarbeiter streiken, ändert sich am Alltagsleben der Bevölkerung nichts. Wenn Erzieherinnen streiken, ändert sich plötzlich sehr viel. Richtet sich die von Didier Eribon[6] beschriebene Notwehr des Industrie­arbeitermilieus nicht eher gegen den gewaltigen Komplex der Dienst­leister*innen, der sie mehr und mehr verdrängt? Ist es nicht genau dieses Ressentiment, das die Trump, Le Pen, Bolsonaro oder Gauland mit ihrer ekelhaften Hetze gegen alles Soziale, Ökologische und Intellektuelle bedienen?

Das zeigt, wo die Riesenlücke, wo das weite Feld liegt, das wir Linken endlich beackern müssen. Es ist unsere historische Mission, endlich uns selbst eine selbstbewusste Stimme zu geben. Denn wir sind ja fast alle selber Dienstleister. Wir brauchen also nicht länger die Revolu­tion stellvertretend für irgendwelche Erniedrigten zu organisieren. Wir können sie für uns selbst organisieren. Welch ein Zugewinn an Stolz (oder, Modewort: Authentizitizitizität)! Statt sedierende Opfer- und Betreuungsdiskurse zu führen, dürfen wir unsere berühmte Kreativität in die Waagschale werfen, um uns Dienstleistern an plastisch-drastischen Beispielen klar zu machen, wie unentbehrlich wir sind:

Alle Glotzen bleiben leer, / wenn du sagt: Ich mag nicht mehr.

Alle Chefs drehn nur am Rad, / wenn Nummer keinen Anschluss hat.

Alle Kinder bleiben dumm, / wenn du dich drehst im Bett herum.

Alle Alten sind bald kalt, / wenn Pflegerin die Türe knallt.

Alle Seiten bleiben weiß, / wenn du fragst: Was soll der Scheiß?

Alle Pläne klemmen fest, / wenn du die Akte liegen lässt.

Das alleine macht noch keine Revolution, sondern zielt eher in Richtung Streik für bessere Löhne, Gehälter, Honorare – ein Streik-Komplex, der dringend nötig ist und auch tatsächlich heranwächst. Doch Streiks im Prekariat und Dienstleistermilieu haben sofort eine revolutionäre Kompo­nente, weil sie sich direkt auf das Alltagsleben der Bevölkerung auswirken: Man stelle sich einen wirkungsvollen Streik der Fernsehtechniker, der Sekretärinnen oder der Köche vor! Und weil wir Dienstleister in zahllosen Fortbildungen und Praxisfällen gelernt haben, wie man selbst­ständig arbeitet, eigene Netzwerke knüpft, komplexe Abläufe organisiert, mit aller Welt kommuniziert und Unternehmen führt. Wir Dienstleister könnten den ganzen Laden tatsächlich übernehmen und dabei das bescheuert antiquierte Konkurrenzprinzip der Kapita­listen, das uns die Arbeit stets vergällt hat, endlich auf den Müllhaufen der Geschichte werfen. Denn wir wissen, wie man effektiv kooperiert und wie effizient und nachhaltig die Kooperation vernünftiger, empathischer, gemeinnützig denkender Akteure sein kann.

Politik ist Kunst, und Kunst ist Radau

Wenn wir den Sozialisten Kurt Eisner und den Dadaisten Richard Huelsenbeck in ein fiktives Streitgespäch über Kunst verwickeln, entstehen überraschende Schlaglichter. Eisner behauptet:

„Eine Regierung, die selbst in diesem Geiste Inbegriff der Kultur ist, fördert dadurch die Kunst an und für sich. Je höher die Staats­leitung geistig steht, desto höher wird auch das Niveau der Kunst sein.“

Kurt Eisner: Rede vor dem Provisorischen Nationalrat (1919)

Schließlich sei, so Eisner, das Politikmachen ebenso eine Kunst wie das Komponieren eines Streichquartetts. Ja, liebe Politikverächter, in Zeiten der Revolution, aber auch in Zeiten engagierter sozialer Reformen war Politik etwas Edles, etwas Heroisches. Hier erleben wir die Quelle der Haltung des linksdemokratischen Journalisten Axel Eggebrecht, der in seiner Jugend noch vom revolutionär-demokratischen Geist der Zeitschrift Die Weltbühne geprägt wurde. 1980 kritisierte er in einem WDR-ZeitZeichen das konservative Kissendogma „Politik verdirbt den Charakter“ und setzte ihm sein demokratisches Gegendogma entgegen: „Schlechte Charaktere verderben die Politik.“

Eisners Lob der intellektuellen Politiker steht hart am Rande des dünkelhaften Eigenlobs, und so haben Faschisten und Antisemiten es damals auch gedeutet. Doch er meinte es anders, nämlich wirklich demokratisch:

„Unser klassisches Zeitalter flüchtete aus dem Reich der unmöglichen Politik in das Reich des Schönen. Daß Freiheit nur im Reich des Schönen gedeihen könnte und nicht in der Welt, war ein Dogma, ein Dogma verzweifelter Resignation. In der heutigen Zeit und in der Zukunft scheint es mir, … daß die Kunst nicht mehr ein Asyl für Verzweifelte am Leben sein soll, sondern daß das Leben selbst ein Kunstwerk sein müsste und der Staat das höchste Kunstwerk.“

Kurt Eisner (1919)

Das klingt schon fast wie bei Joseph Beuys.

Das Leben ein Kunstwerk – so dachte auch Richard Huelsenbeck, als er in seinem Dadaisti­schen Manifest gegen die Expressionisten agitierte, also die Künstlergeneration, die den Dadaisten vorausgegangen war und sich gerade im Kunstbetrieb etabliert hatte. Die Spitze, die er dabei formulierte, trifft auch bei der heutigen linksliberal-kritischen Intellektuellenszene ins Schwarze:

„Der Haß gegen die Presse, der Haß gegen die Reklame, der Haß gegen die Sensation spricht für Menschen, denen ihr Sessel wichtiger ist als der Lärm der Straße…“

Richard Huelsenbeck: Dadaistisches Manifest (1919)

Die Dadaisten dagegen erleben und erschaffen ihre Kunst mitten im Getöse des Alltags, während ihnen die sensationsgeilen Schlagzeilen der Boulevardpresse um die Ohren fliegen. Wo Eisner an Streichquartette dachte, dachte Huelsenbeck an Collagen aus dem Lärm quietschender Straßenbahnen. Philosophisch waren sich Eisner und Huelsenbeck einig, aber zwischen ihren künstlerischen Geschmäckern lagen Welten und Äonen.

Früher war alles besser? Quatsch! „Jener sentimentale Widerstand gegen die Zeit, die nicht besser und nicht schlechter, nicht reaktionärer und nicht revolutionärer als alle anderen Zeiten ist“, ist nach Huelsenbeck Zeichen einer Jugend, die nie jung gewesen ist. Den findet man auch heute allenthalben, und er ist in der Tat eine konservativ-kulturpessimistische Torheit aus links­liberaler Edelfeder.

Lebenskunst für Regimekritiker*

Es mag eine Binsenweisheit sein, aber Rosa Luxemburg liefert in ihrem entzückenden Brief an die Freundin Luise Kautsky einen schlagenden Einwand gegen die periodisch auftretenden Anfälle von Jammerei unter Regime- und Gesellschaftskritiker*n:

„Begreifst Du denn nicht, daß der allgemeine Dalles viel zu groß ist, um über ihn zu stöhnen? Ich kann mich grämen, wenn mir die Mimi[7] krank wird oder wenn Dir etwas fehlt. Aber wenn die gesamte Welt aus den Fugen geht, dann suche ich nur zu begreifen, was und weshalb es passiert ist, und hab ich meine Pflicht getan, dann bin ich weiter ruhig und guter Dinge. Ultra posse nemo obligatur.[8]

Rosa Luxemburg: Brief an Luise Kautsky (1917)

Der Dichter und Anarchist Erich Mühsam setzte den Fokus in seiner »Lebensregel« ähnlich und doch ein bisschen anders:

„Künftiges missachten, Früh’res nicht bereuen / Den Augenblick nicht deuten und nicht scheuen / Dem Leben zuschaun; andrer Glück nicht neiden…“

Erich Mühsam: Lebensregel

Also Emotionen rausnehmen aus den großen Dingen, stattdessen lieber forschen und analy­sieren. Oder bei Mühsam: Nicht ständig an eine womöglich apokalyptische Zukunft denken, sondern die Gegenwart genießen. Dazu passt eine Frage, die die Philosophin Hannah Arendt um 1974 aufgeworfen hat:

„Könnte vielleicht das Denken als solches – die Gewohnheit, alles zu untersuchen, was sich begibt oder die Aufmerksamkeit erregt, ohne Rücksicht auf die Ergeb­nisse und den speziellen Inhalt – zu den Bedingungen gehören, die die Menschen davon abhalten oder geradezu dagegen prädisponieren, Böses zu tun?“

Hannah Arendt: Das Denken (1974)

Diese Vermutung wurde jüngst von chinesischen Forschern bestätigt. Sie kamen zu dem Ergebnis, dass Menschen, wenn sie genug Zeit zum Überlegen haben, dazu neigen, mit ihren Mitmenschen zu kooperieren.

Zugleich scheinen mir diese Ansätze auch tauglich zu sein als Gegengift gegen die spezielle Form von Weltschmerz und Untergangsstimmung, die von vielen Umweltschützer*n routine­mäßig verbreitet wird. Die deklamieren gern: „Wir alle zerstören mit unseren Konsumgewohn­heiten die Zukunft des Planeten.“ Schuld ist angeblich immer „unser“ Konsum ­– also das Bestre­ben der Menschen, gut zu leben; ihr Bestreben, gut zu essen, ein Dach überm Kopf zu haben, einen eigenen Garten, ab und zu zu verreisen usw. Das alles soll eine Sünde sein und schuld am Tod von Walen und Eisbären. Kein Wunder, dass viele Menschen nur noch genervt auf diese ewige Miesepeterpredigt reagieren. Vom Stand­punkt des Revolutionärs aus betrachtet ist sie unpolitisch und irreführend. Denn wo alle schuld sind, ist niemand schuld. Die Automanager reiben sich die Hände, wenn ihre ganz spezielle Schuld in einem Wald von Mitschuldigen verschwindet und wenn die Moralpredigten dazu führen, dass niemand mehr an die Kraft der Gesetze denkt. Jede Gesellschaft hat das Recht, das rücksichtslose und destruktive Verhalten Einzelner per Gesetz zu unterbinden. Und wenn dieser mächtig ist, stellt der Revolutionär die Machtfrage.


[1]       Der usamische Schriftsteller Elie Wiesel erklärte 1986 in einer berühmten Rede, „daß das Gegenteil von Liebe nicht Haß ist, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Glaube ist nicht Überheblichkeit, sondern Gleichgültigkeit. Das Gegenteil von Hoffnung ist nicht Verzweiflung, es ist Gleichgültigkeit…“ Wobei hier stets die Gleichgültigkeit vieler Deutscher in der Nazizeit gegenüber dem Schicksal ihrer jüdischen Mitbürger den Hintergrund bildet.

[2]       geneint ist, dann, wenn die Sozialisten unentgeltliche Bildungsanstalten und Stipendien durchgesetzt hätten

[3]       Hannah Arendt (1906–1975), dt.-amerikan. Politologin und Philosophin, in ihrem Werk »Macht und Gewalt«

[5]       Georg Herwegh: Bundeslied (1864)

[6]       Didier Eribon (*1953), frz. Soziologe und Journalist. 2009 erschien sein autobiograph. Buch »Retour à Reims«, 2016 auf dt.: »Rückkehr nach Reims«, in dem er die Annäherung des Reimser Arbeitermilieus an den Front National skizziert.

[7]       Rosa Luxemburgs Katze

[8]       Jenseits des Könnens ist niemand verpflichtet.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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