„Die Politik hat versagt“? Falscher Sprachgebrauch

Mit Politik war bis ins frühe 21. Jahrhundert in der Regel ein Tätigkeits- und Interessengebiet der Menschen gemeint. Politik war etwas, das man macht; genauer: etwas, das in einer Demokratie sogar jeder von uns machen kann. „Politik machen“ hieß: sich um Angelegenheiten des Staates, der Gesellschaft, des öffentlichen Zusammenlebens der Menschen kümmern; sich informieren, sich eine Meinung bilden, diese Meinung öffentlich äußern, mitdiskutieren, Vereine bilden, demonstrieren, abstimmen, wählen, kandidieren. Um 2005 änderte sich die Bedeutung des Wortes Politik.

In den Zeitungen erschienen nun Sätze wie: „Hier ist die Politik gefragt.“ – „Das ist eine Aufgabe der Politik.“ – „… nach dem Willen der Politik“ – „Flirt mit der Politik“ – „Der DGB fordert die Politik auf, …“ – „Ein Chefredakteur wird von der Politik aus dem Amt gedrängt …“ – „Sie sah in der Politik keinen verlässlichen Partner mehr.“ – Oder hier, besonders absurd: „‚Gut Wittenbach‘ stürzt Politik in Existenzkrise.“
Die Politik wurde also vom Objekt menschlichen Tuns zum Subjekt. Mit »der Politik« waren jetzt bestimmte Menschen gemeint, die Politiker; die Mitglieder der Bundesregierung und des Bundestages, manchmal die einer Landesregierung und eines Landtages; manchmal Oberbürgermeister und Stadtratsmitglieder.

Gibt es eine „politische Klasse“? Ist „die Politik“ ein Lieferant?

Politiker wurden zunächst pauschal als „politische Klasse“ bezeichnet, um herauszustellen, wie sehr sie sich angeblich von der Gesellschaft entfremdet haben. Von da aus war der Weg nicht mehr weit, die Politik als eine Art Firma zu sehen wie Bahn oder Post; und die Bürger wurden zu Kunden dieser Firma, die sich routinemäßig über den schlechten Service und die hohen Preise beklagten. In einem Politikforum des Internetnetzwerkes XING wurde 2009 ernsthaft darüber diskutiert, wie man das Gehalt von Politikern an ihrer Leistung ausrichten könne. Immerhin kam einer der Mitdiskutanten auf die Idee zu fragen, wie man denn die Leistung eines verhinderten Krieges bewerten solle.

Regierungen und Parlamente als Dienstleistungsfirma: Ein schlagendes Beispiel für den neuen Sinn des Wortes »die Politik« lieferte der SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel im Juli 2012 in einem Thesenpapier: „Sie [die Banken] betreiben auch heute riskante Geschäfte, als hätte es die Finanzkrise 2008 nicht gegeben. Und wenn es schief geht, bestellen sie bei der Politik Rettungspakete.“

Giovanni di Lorenzo, Chefredakteur der Zeit, nahm im Juni 2010 in seinem Leitartikel dankenswerterweise die Mitglieder der Bundesregierung und die Fraktionsvorsitzenden im Bundestag gegen sie verächtlich machende Schmähkritik in Schutz. Seine Unterzeile dazu lautete jedoch: „Wer heute die Politik scharf kritisiert, hat Recht.“ Nein, falsche Spur! Statt „die Politik“ anzumeckern, sollten die Bürgerinnen und Bürger in einer Demokratie Politik machen. Schlechte Politik bekämpft man, indem man eine bessere dagegensetzt. Wer eine bestimmte Politik der Regierung oder bestimmter Politiker öffentlich kritisiert, ist bereits einen Schritt weitergegangen und macht in diesem Moment Politik. Das ist der eigentliche Sinn des Wortes Politik, der durch den neuen Sprachgebrauch verloren zu gehen droht. Allgemeines Gemecker über „die Politik“ führt uns schnell in die Nähe des konservativen Dogmas Politik verdirbt den Charakter.

Eine Vereinfachung? Leider ist die unterkomplex

Nun mag man einwenden, die Floskel „die Politik“ sei halt eine Vereinfachung, deren Sinn in der Praxis jeder verstehe. Doch ich widerspreche erneut: Auch wenn im Groben klar ist, dass mit „der Politik“ im Prinzip die jeweils zuständige politische Instanz gemeint ist, verschleiert und vernebelt dieser allzu bequeme Sprachgebrauch permanent die Verantwortlichkeiten.

Wer den Bundesverkehrsminister kritisieren will, sollte den Mann beim Namen nennen. Denn es gibt meines Erachtens gute und schlechte Verkehrsminister, gute und schlechte Politiker. Was bringt es, sie in den gleichen Topf werfen? Hannah Arendt antwortet: „Nun, wo alle schuldig sind, ist es keiner; gegen die Entdeckung der wirklich Schuldigen oder Verantwortlichen, die Missstände abstellen könnten, gibt es keinen besseren Schutz als kollektive Schuldbekenntnisse.“

Die Psychologin Marina Weisband, die 2010 bis 2012 politische Geschäftsführerin der Piratenpartei war, sagte im März 2013 in einem Interview etwas Denkwürdiges: „Politik ist nur das Miteinander von Menschen, die einen Weg suchen, wie sie vernünftig leben können … Ich interessiere mich für die Gestaltung der Gesellschaft. Politik ist der rechtsstaatliche Weg dorthin.“ Dieser jungen Dame können wir begeistert zustimmen:

Politik muss man machen, nicht anmachen.

Jens Jürgen Korff 2015

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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