Die Seuche als historisches Ereignis (Stand 1. Juli 2020)

Von Jens Jürgen Korff
Der Streit mit Leuten, die einen „Corona-Fake“ sehen, auch der Streit um die Einschät­zung der Opfer­zahlen, drängt mich dazu, als Histo­riker eine Einschät­zung der strit­tigen Fragen vorzu­nehmen. Dabei geht es nach Lage der Dinge zunächst um die histo­ri­sche Entwick­lung der Seuche und der Gegen­maß­nahmen, vor allem des großen Lockdown im März 2020. Als histo­ri­sches Ereignis hat die Seuche zusammen mit der Kontakt­sperre natür­lich auch länger­fris­tige Folgen, die Histo­riker analy­sieren müssen – aber dazu ist es zu früh.

Mit Seuche meine ich hier die CoVID-19-Pandemie. Dass ich sie eine Seuche nenne, ist bereits eine Stellung­nahme. Damit ordne ich sie in eine Reihe früherer histo­ri­scher Ereig­nisse ein wie die Pest-Epidemie um 1350, die Cholera-Epide­mien des 19. Jahrhun­derts oder die Spani­sche Grippe von 191819. Die Seuche hat weltweit bislang vielen Millionen Menschen schreck­liche Qualen bereitet und Hundert­tau­senden von ihnen das Leben gekostet. Wer angesichts dieser Lage von einem „Corona-Fake“ faselt, für den ist wohl die gesun­gene Sottise der Wise Guys gedacht: „Liebelein, ich glaub‘, du hast den Schuss nicht gehört /​ den Schuss nicht gehört /​ den Schuss nicht gehört! /​ Liebelein, ich glaub‘, du bist ein hoffnungs­loser Fall. /​ Liebelein, ich glaub‘, du hast’n Knall!“

Die Corona-Seuche brach bekannt­lich Dezember 2019 in der chine­si­schen Millio­nen­stadt Wuhan aus. Sie fiel den Ärzten in Wuhan als neues Ereignis auf, weil der Ablauf der Erkran­kung anders war als bei Influ­enza-Erkran­kungen üblich und auch etwas anders als bei der SARS-Epidemie 2002. Am 7. Januar 2020 konnten chine­si­sche Virologen ein neues Corona­virus, später offiziell SARS-CoV‑2 genannt, als Verur­sa­cher der Seuche vorstellen. Noch im Februar 2020 wurde die Seuche vom zustän­digen Robert-Koch-Institut in Deutsch­land nicht über‑, sondern unter­schätzt. Sie galt als inner­chi­ne­si­sche Angele­gen­heit, die Experten rechneten damals nicht damit, dass sie sich schnell und massiv in Europa ausdehnen würde. Wie man später wusste, verbrei­tete sie sich damals bereits rasant in der Lombardei und sprang nach Ischgl in Tirol und nach Gangelt bei Heins­berg über. Dieser histo­ri­sche Ablauf wider­legt die Behaup­tung sog. Corona-Kritiker, am Anfang der Pandemie habe eine Panik­mache gestanden. Das Gegen­teil war der Fall.

Die „März-Panik“

Aller­dings lässt dieser Ablauf auch die folgende „März-Panik“ verständ­lich werden. Die italie­ni­schen wie die deutschen Virologen und Gesund­heits­po­li­tiker wurden von dem explo­si­ons­ar­tigen Ausbruch in der Lombardei überrascht, mussten ihre Haltung zur Seuche inner­halb weniger Tage revidieren und auf Alarm­stufe Rot umschalten. Dabei schüt­teten sie zum Teil das Kind mit dem Bade aus, und die Medien taten das, was sie bei Dramen immer immer tun: Sie drama­ti­sierten und emotio­na­li­sierten. Es rächte sich, dass die Europäer die chine­si­schen, südko­rea­ni­schen und vietna­me­si­schen Erfah­rungen in ihrer rassis­ti­schen Verblen­dung weitge­hend ignoriert hatten. Das von den Regie­rungen vieler Länder, darunter Deutsch­lands, angeord­nete Seuchen­re­gime (Kontakt­sperren, der sog. Lockdown, das Herun­ter­fahren von Mobilität und öffent­li­chem Leben, später die Masken­pflicht) wurde mit der Gefahr begründet, dass explo­si­ons­ar­tige Ausbrüche wie in der Lombardei die Kapazi­täten des Gesundheits­wesens überlasten könnten. In Italien und Spanien, auch in New York war das regional und zeitweise tatsäch­lich der Fall, in Deutsch­land aller­dings nicht: Hier blieb die Zahl der Erkrankten stets deutlich unter­halb der Kapazi­täts­grenze, die die Kranken­häuser durch Notstands­maß­nahmen kurzfristig ausge­dehnt hatten. In der Folge entstand im Mai in Deutsch­land, als der Lockdown bereits wieder gelockert wurde, organi­siert über ein neu auftre­tendes Internet-Medium namens Telegram, eine große Szene von „Corona-Kriti­kern“, die den Lockdown insge­samt als drastisch übertrieben kriti­sierten.

Ein Kind der März-Panik war auch jenes interne Strate­gie­pa­pier aus dem Bundes­in­nen­mi­nis­te­rium, das Kritiker im April 2020 veröf­fent­lichten. Die darin dokumen­tierte Tagung einiger hoher Beamter mit Vertre­tern von Unter­neh­mer­ver­bänden scheint Belege für die These zu liefern, dass Panik bewusst geschürt wurde. In Wirklich­keit dokumen­tiert es eine Fehlein­schät­zung der Lage, die offenbar damals in herrschenden Kreisen kursierte. Weit verbreitet war im März und April die Befürch­tung, dass die Seuche in einer zweiten und schlim­meren Welle zurück­kehren könnte. Dafür sprach unter anderem der Ablauf der Spani­schen Grippe 191819.  Die auf der Tagung entwi­ckelten Szena­rien waren von dem Motiv getrieben, eine zweite Welle unter allen Umständen zu verhin­dern, weil die Unter­nehmer­vertreter für einen solchen Fall katastro­phale wirtschaft­liche Folgen voraus­sagten. In typischer Herren­ar­ro­ganz gingen die Strategen davon aus, dass das „dumme Volk“ von sich aus nicht in der Lage sei, sich vernünftig und vorsichtig genug zu verhalten, um eine zweite Welle zu verhin­dern. Deshalb überlegten sie, mit welchen Mitteln sie genug Angst erzeugen könnten, um die erfor­der­liche Kontakt­sperre lange genug aufrecht zu erhalten. Dass dafür die Bilder aus Nordita­lien voll und ganz ausge­reicht hatten, zusammen mit den frisch entstan­denen sozialen Normen des Abstands­ge­bots, des Hände­wa­schens usw. und einer gewissen Lust an sozialer Kontrolle, merkten die Herren kurze Zeit später und konnten deshalb auf weitere Horror­ein­lagen verzichten.

Wenn es brennt, muss man löschen

Ob der Lockdown nötig war, um die Seuche einzu­dämmen, oder ob er mehr Schaden angerichtet als Werte gerettet hat – diese Frage wird man wohl niemals klären können, weil der alter­na­tive Verlauf der Geschichte unbekannt ist und weil man Arbeits­lo­sig­keit nicht gegen Menschen­leben aufrechnen kann. Die Diskus­sion darüber ist auch deshalb weitge­hend nutzlos, weil Kontakt­sperren usw. nicht nur in einem oder zwei, sondern in Dutzenden von Staaten verhängt wurden. Es waren Notstands­maßnahmen zur Bewäl­ti­gung einer globalen Natur­ka­ta­strophe. Wenn es brennt, haben wir wenig Alter­na­tiven zum Versuch, das Feuer zu löschen. Anders als beim Ausbruch von Kriegen gab es in fast keinem der betrof­fenen Länder Kräfte, die wesent­lich andere Wege einschlagen wollten. Diese Alternativ­losigkeit hat nichts mit einer übermäch­tigen Manipu­la­ti­ons­macht zu tun, wie antise­mi­ti­sche Verschwörungs­mythiker glauben machen wollen. Sondern sie ist darin begründet, dass die Mensch­heit über die Jahrhun­derte hinweg gelernt hat, mit Seuchen umzugehen. Die Lockdowns bewegten sich inner­halb des Musters, das die Menschen bei Seuchen­aus­brü­chen seit Jahrhun­derten anwenden. Auch bei den Pestaus­brü­chen des späten Mittel­al­ters oder bei der großen Cholera um 1830 wurden die betrof­fenen Städte isoliert, der Reise­ver­kehr, die Märkte und alle Feier­lich­keiten wurden einge­stellt, damit auch große Teile der Wirtschaft. Dass die Regie­rungen in einer Alarm­lage genau diese Maßnahmen ergriffen haben, war nahelie­gend. Dieses Verhalten ist Ergebnis einer scharfen kultu­rellen Selek­tion: Gesell­schaften, die sich so verhalten haben, haben mit größerer Wahrschein­lich­keit frühere Seuchen überlebt als solche, die sich anders verhalten haben. Weil wir alle von Menschen abstammen, die sich bei früheren Seuchen richtig verhalten und überlebt haben, kennen und akzep­tieren wir solche Maßnahmen, auch wenn jeder einzelne sie zum ersten Mal im Leben miter­lebt.

Mach mir den Mainstream

Die Klage über „gleich­ge­schal­tete“ „Mainstream“-Medien, die angeb­lich jede Kritik am Seuchen­regime der Regie­rungen und ihren Begrün­dungen ignorieren, verleumden oder delegi­ti­mieren, geht an den Reali­täten vorbei, wenn man histo­ri­sche Vergleiche heran­zieht. Zunächst fällt auf, dass die Kritik vor allem von Szenen geäußert wird, die diese Leier schon seit Jahrzehnten spielen, und zwar stets im Zusam­men­hang mit ihren jewei­ligen Verschwö­rungs­my­then: sei es der Tod Barschels, der 11. September 2001 oder die Mondlan­dung. Wer sich auf die Straße stellt und die Evolu­tion der Arten, die Erder­wär­mung oder den Holocaust bestreitet, muss sich nicht wundern, dass er 90 Prozent der Beobachter gegen sich hat. Intel­lek­tu­elle Geister­fahrer erzeugen den „Mainstream“ selbst, gegen den sie dann wettern können. Davon abgesehen fällt mir auf, dass die Debatte in den Medien über Corona und Lockdown-Maßnahmen erheb­lich vielfäl­tiger ist als es zum Beispiel in den 1970er Jahren die Debatte um den Vietnam­krieg oder über links­ra­di­kale Terro­risten, in den 1980er Jahren die Debatte über NATO-Raketen oder über den Falkland-Krieg, in den 1990er Jahren die Debatten über die Kriege in Jugosla­wien oder 2003 die Debatten über den Krieg gegen den Irak gewesen sind. Dabei ging es jeweils um Kriege, also um willkür­liche Regie­rungs­ent­schei­dungen, die von Anfang an kontro­vers waren. Dennoch waren die Kommen­ta­toren in den Massen­me­dien damals weitge­hend linien­treu und fügten sich den Befehlen der Generäle. Diesmal geht es um eine Natur­ka­ta­strophe und die Frage, wie man ihr begegnet. Obwohl die Sache also, wie oben gezeigt, nicht der Willkür von Entschei­dern unter­liegt und kaum kontro­vers sein kann, werden viele Kontro­versen offen in den Medien und auch zwischen Politi­kern ausge­tragen. Der Unter­schied in diesem Vergleich ist auch daran festzu­ma­chen, dass es bei allen Kriegen und Rüstungs­pro­jekten eindeu­tige Nutznießer gab und eindeu­tige Geschä­digte, also klare Interessen­widersprüche in der Gesell­schaft. Bei der Seuche dagegen gibt es genauso wenig wie bei einer Überschwem­mung oder einem Orkan irgend­welche Nutznießer; es gibt nur Geschä­digte. Daher ist eher die Vielfalt in den Medien als die Einheit­lich­keit der Stellung­nahmen verwun­der­lich.

Diese Vielfalt brach aller­dings erst dann deutlich aus, als sich Ende Mai 2020 zeigte, dass die Seuche in Deutsch­land und anderen Ländern zurück­ging und erste Locke­rungen der harten Lockdown-Maßnahmen anstanden. Dabei gab es dann doch plötz­lich Inter­es­sen­wi­der­sprüche, nämlich jeweils die Frage, wo zuerst gelockert werden sollte. Dazu unter­schied­liche Einschät­zungen der Gefahr einer zweiten Welle. Zugleich brachten diese Locke­rungen das Seuchen­re­gime insge­samt ins Wanken. Es ist eine alte Erfah­rung aus vielen Revolu­tionen, dass Aufstände genau dann entstehen, wenn ein Régime ohnehin schon wankt. Erst das Wanken und die damit verbun­denen Wider­sprüche delegi­ti­mieren die herrschende Gewalt und lassen Raum für wider­stän­digen Mut. So ist die Welle der Proteste Anfang Juni 2020 zu erklären.

Das Bolsonaro-Kalkül

Wenn wir den brasi­lia­ni­schen Gangs­ter­boss Bolso­naro ins Auge fassen, wird aller­dings doch ein Inter­es­sen­wi­der­spruch sichtbar, den das Seuchen­re­gime von Anfang an enthielt: nämlich die Frage, ob man den plötz­li­chen Tod vieler alter Menschen hätte in Kauf nehmen können und sollen, um die Wirtschafts­tä­tig­keit der Unter­nehmen unter allen Umständen aufrecht zu erhalten. In den weitaus meisten Ländern war das keine Option, die ernst­haft erwogen wurde. Links­so­zia­lis­ti­sche Stamokap[1]-Kritiker lernen gerade mit Staunen, dass kapita­lis­ti­sche Länder in der Lage sind, das Monopol­ka­pital in die Kurzar­beit zu schicken, um Menschen­leben von Greisen zu retten, die aus Sicht von Kapita­listen gar keinen verwert­baren Wert mehr haben. (Stimmt nicht ganz, denn als Konsu­menten von Arznei­mit­teln sind Greise eine hoch inter­es­sante Zielgruppe.)

Doch in der späteren Kritik des Seuchen­re­gimes tauchten Argumente aus diesem Gedan­ken­ge­bäude wieder auf. Manche bestritten die Dramatik der Opfer­zahlen mit dem Hinweis, die Todes­opfer in Deutsch­land seien im Schnitt 82 Jahre alt gewesen und hätten zahlreiche Vorer­kran­kungen gehabt. Es handle sich also um Leute, die ohnehin bald gestorben wären. Wenn man nicht angefangen hätte, solche Leute zu testen, hieß es, dann hätte man sie für gewöhn­liche Todes­fälle unter gebrech­li­chen Menschen gehalten. Dieses Argument, das auch moralisch fragwürdig ist, missachtet die Rolle der Seuche als histo­ri­sches Ereignis. Als solches ist sie singulär und von anderen Ereig­nissen und Abläufen isoliert, auch wenn wir als Betrachter es sind, die die Isolie­rung vornehmen. Wenn beim Waldbrand ein Evaku­ie­rungbus mit alten Leuten verun­glückt und dabei 20 gebrech­liche Menschen mit Vorer­kran­kungen im Rauch ersti­cken, kommt niemand auf die Idee, die Zahl der Todes­opfer anzuzwei­feln oder zu relati­vieren. Sie werden natür­lich als Todes­opfer des Waldbrands gezählt, auch dann, wenn junge und gesunde Leute sich aus dem verun­glückten Bus wahrschein­lich hätten retten können, das Alter der Todes­opfer also im Ablauf der Tragödie eine Rolle spielte.

Es gibt auch ein Argument, das den Ablauf umdreht: Viele Todes­opfer der Seuche seien mögli­cher­weise nur deshalb noch am Leben gewesen, weil die Grippe­welle des voraus­ge­gan­genen Winters milder verlaufen sei als gewöhn­lich. Wäre die Grippe härter gewesen, wären die Leute, die im April an CoVID-19 starben, im März schon tot gewesen. Tja, hätte, hätte, Viren­kette. Solche Speku­la­tionen setzen sich darüber hinweg, dass die Seuche ein singu­läres histo­ri­sches Ereignis ist. Sie stehen auch medizi­nisch auf schwa­chen Füßen, denn Influ­enza-Erkran­kungen und CoVID-19 verlaufen unter­schied­lich, und es kommen unter­schied­liche Schwä­chen der Betrof­fenen zum Tragen. Will sagen: An Influ­enza sterben andere als an CoVID-19. Für den histo­ri­schen Ablauf und die mutmaß­li­chen Folgen der Corona­krise hat es keine Rolle gespielt, ob irgend­welche Opfer unter anderen Umständen schon vorher oder kurze Zeit nachher gestorben wären. Die Millionen von Menschen, die ihre Corona-Erkran­kung unter Qualen, teilweise mit Ach und Krach überlebt haben, schüt­teln vermut­lich ohnehin den Kopf über eine relati­vie­rende Scholastik, die offenbar alles versucht, um die Seuche tiefer zu hängen.

[1]     Staats­mo­no­po­lis­ti­scher Kapita­lismus, eine marxis­tisch-leninis­ti­sche Theorie der 1970er Jahre, nach der die Staats­füh­rungen mit dem „Monopol­ka­pital“, also den Großkon­zernen, praktisch identisch sind

Demokratie in Zeiten der Seuche

Ein Standard­vor­wurf der Krisen­kri­tiker geht dahin, dass die Kontakt­sperren, Veran­stal­tungs- und Berufs­ver­bote sowie die Masken­pflicht massive Eingriffe in Grund­rechte seien, die seltsa­mer­weise von einer Mehrheit der Bevöl­ke­rung und der Journa­listen kritiklos hinge­nommen würden. Der Vorwurf ist einer­seits deplat­ziert, weil es sich um vorüber­ge­hende Notstands­maß­nahmen handelt, und im Notstand, im Katastro­phen­fall werden fast immer Grund­rechte einge­schränkt. Wenn der schon mehrfach herbei­zi­tierte Wald brennt, werden Menschen auch gegen ihren Willen aus ihren gefähr­deten Häusern evaku­iert. Das verstößt massiv gegen mehrere Grund­rechte – Freizü­gig­keit, Eigentums­garantie, Unver­letz­lich­keit der Wohnung –, aber alle diese Grund­rechte tragen den Zusatz, dass der Staat aufgrund von Gesetzen in sie eingreifen darf, so lange er sie nicht „in ihrem Wesens­ge­halt antastet“. Das Seuchen­re­gime greift in der Tat in etliche Grund­rechte ein: freie Entfal­tung der Persön­lich­keit, Freizü­gig­keit, Versamm­lungs­frei­heit, Verei­ni­gungs­frei­heit, Eigentums­garantie (wenn man z. B. nicht zu seinem Ferien­haus fahren oder eine gebuchte Urlaubs­reise nicht antreten darf), Berufs­frei­heit, Schutz der Familie (wenn man z. B. Famili­en­mit­glieder nicht besuchen darf), Recht auf Bildung. Auch die Meinungs­frei­heit und die Freiheit von Kunst und Wissen­schaft waren einge­schränkt, weil große Teile des Kultur­le­bens sowie die Hochschulen still­ge­legt waren. Gruppen konnten sich nicht mehr treffen, die ganze Zivil­ge­sell­schaft kam weitge­hend zum Erliegen oder wurde ins Internet verbannt. Der Umfang der Grund­rechts­ver­luste war tatsäch­lich unver­gleich­lich groß. Doch keines der betrof­fenen Grund­rechte wurde, so weit bislang absehbar, in seinem Wesens­ge­halt angetastet, weil alle Einschrän­kungen auf den Zeitraum einer einzelnen Katastrophe begrenzt blieben und, sobald es die Seuchen­lage zuließ, wieder aufge­hoben wurden.

Kultur­his­to­risch und polito­lo­gisch ist anderer­seits bemer­kens­wert, dass in der Bevöl­ke­rung im März und April 2020 die Bereit­schaft weit verbreitet war, sich einer rigiden sozialen Kontrolle zu unter­werfen und diese Kontrolle zum Teil auch selbst auszu­üben. Im Mai begann diese Unter­wer­fung aller­dings nachzu­lassen. Es bleibt sozialpsycho­logisch zu unter­su­chen, wie dauer­haft diese Tendenz ist oder war und mit welchen anderen typischen Äußerungen aus der Krisen­zeit sie zusam­men­hing; etwa mit der Zufrie­den­heit, dass man einmal miter­leben durfte, wie die übliche Hektik, der übliche Lärm, das übliche Überan­gebot an allem, die übliche Informations­überflutung verschwanden. Das latente Unbehagen an der Vielfalt pluraler Gesell­schaften, am ewig von Kondens­streifen zerteilten Himmel über Rhein, Elbe und Donau fand offenbar plötz­lich einen Ausdruck und einen Ort in der Zeit.

Auffällig ist das enorme Ausmaß an Kreati­vität und speziell an prakti­scher Philo­so­phie, das die Krise mobili­siert hat. Die Corona­kri­sen­li­te­ratur ist dabei, Regale und Webserver zu füllen. Das spricht gegen die Klage der Krisen­kri­tiker über angeb­liche Zensur, die, wie bei solchen Klagen üblich, zwei Ebenen verwech­selt: den Entschei­dungs­pro­zess von Redak­tionen und Verlagen, die in der Corona­krise genau wie in jeder anderen Zeit streng ausge­wählt haben, welche Texte sie veröf­fent­li­chen wollten und welche nicht; und den Eingriff staat­li­cher Stellen gegen Texte, die eine Redak­tion oder ein Verlag oder ein Autor auf dem eigenen Medium veröf­fent­li­chen wollte. Nur das letztere wird vom Grund­ge­setz Zensur genannt. Sie fand, so weit ich infor­miert bin, nicht statt.

Die weiteren Aussichten

Der strei­fen­freie Maihimmel des Jahres 2020 stieg vielen Kommen­ta­to­rinnen und ‑toren zu Kopfe, und sie äußerten die Hoffnung, dass sich nun alles, alles wenden möge. Ganz ahisto­risch ist diese Hoffnung nicht: Die Pestkrise der Zeit um 1350 hat tatsäch­lich vieles gewendet und mitge­holfen, die damalige »Neuzeit« einzu­läuten. Das hat der Kultur­his­to­riker Egon Friedell 1927 in seiner »Kultur­geschichte der Neuzeit« anschau­lich (und sehr eigen­willig) darge­stellt. Aber um welch furcht­baren Preis! Es mag ja buddhis­tisch korrekt sein, auch den schreck­lichsten Albträumen positive Seiten abzuge­winnen, aber in diesem Fall kommt es mir wie magisches Denken, Quack­sal­berei und das Lachen Bajazzos vor. Eine Seuche ist erstens Scheiße, zweitens Scheiße und drittens Scheiße. Wer will daraus Gold machen?

Welche maskierten Trends zeichnen sich heute hinterm Sicher­heits­ab­stand ab? Wie dauer­haft die Schäden am globalen Wirtschafts­system sein werden, kann man noch schwer abschätzen. Aber positiv zeichnet sich ab, dass alle gesehen haben: Das Gesund­heits­wesen – und damit ein zentrales Element des Dienstleistungs­sektors – ist wesent­lich system­re­le­vanter als die Autoin­dus­trie und irgend­eine andere Indus­trie. Diese Erkenntnis ist bereits in die politi­sche Entschei­dung der Bundes­re­gie­rung und des Bundes­tages einge­flossen, dem Druck der Autolobby diesmal stand­zu­halten und keine staat­liche Abverkaufs­förderung für überschwere Auspuff­träger zu gewähren. Der Optimist in mir sieht hier die Morgen­röte eine Zeiten­wende leuchten, die Care-Revolu­tion. Deutlich zu sehen ist auch die Renais­sance des Staates als Autorität, nach vielen Jahren der Agita­tion neoli­be­raler, neofeu­daler und neoan­a­r­chis­ti­scher Staats­feinde. Die große Mehrheit hat erkannt: In Zeiten des Notstands ist der Staat unver­zichtbar, um Menschen­leben zu retten. Leider hat sich dabei auch die große Schwäche des politi­schen Systems der Mensch­heit abermals offen­bart: Obwohl die Seuche als Pandemie schon im Januar 2020 eine globale Bedro­hung war, wurden die Seuchen­re­gimes strikt national organi­siert, weil unsere Staaten­welt nach wie vor borniert natio­nal­hier­ar­chisch ist. In Zeiten einer weltweiten Infor­ma­ti­ons­ge­sell­schaft, eines welt­weiten Kultur­raums (und, wie wir lernen mussten: eines weltweiten Viren­bio­tops) ist das extrem anachro­nis­tisch. Dieser Anachro­nismus wird mit Zähnen und Klauen vertei­digt, etwa mit wüsten Affekten und Verleum­dungen gegen die Weltge­sund­heits-Organi­sa­tion WHO, die von herrsch­süch­tigen und narziss­tisch verstrahlten Beton­köpfen gestreut wurden und werden. Ob diese reaktio­nären Schat­ten­fi­guren bald vom hellen Licht der inter­na­tio­nalen Solida­rität überstrahlt werden – das bleibt zu hoffen und in unserer Verant­wor­tung als linke Demokraten.

Andere Stimmen zum Thema

Eine solche Pandemie gab es noch nie. Eine Analyse von Jakob Simmank, Die Zeit 25.3.2020. Daraus vier Zitate:

Wie wohl bei keiner anderen Pandemie gibt es nur noch ein Thema, über das die Menschen reden – und nur noch ein Thema, das die Politik umtreibt: Corona. Das beobachtet auch Thomas Zimmer. Der Histo­riker von der Uni Freiburg ist Experte für die Geschichte der inter­na­tio­nalen Gesund­heits­po­litik… Schulen, Bars und Geschäfte zu schließen, Grenzen dicht­zu­ma­chen – “eine derart massive politi­sche Reaktion auf ein Gesund­heits­pro­blem hat es in der Geschichte der Bundes­re­pu­blik noch nicht gegeben”, sagt Zimmer.

Noch im vergan­genen September hieß es in einem Bericht des Global Prepared­ness Monito­ring Boards: “Die Welt ist nicht auf eine Pandemie mit einem sich schnell ausbrei­tenden, virulenten Atemwegs­keim vorbe­reitet”, die bishe­rigen Bemühungen seien gut, aber “hochgradig ungenü­gend”. Es fehle an Überwa­chungs­sys­temen, Lager­ka­pa­zi­täten und einem starken öffent­li­chen Gesund­heits­dienst, der Infek­ti­ons­ketten aufspürt.

Und noch etwas lehren uns vergan­gene Ausbrüche: Wir müssen schnell sein. Sehr schnell. Mike Ryan, der oberste Seuchen­schützer der WHO, der geholfen hat, einen Ebola-Ausbruch nach dem anderen einzu­dämmen, sagt: “Seien Sie schnell. Bereuen Sie nichts.” Er sagt auch: “Geschwin­dig­keit sticht Perfek­tion. […] Der größte Fehler ist, gelähmt zu sein von der Angst, zu versagen.” Ryans Botschaft lässt das, was momentan in Deutsch­land und Europa passiert, in anderem Licht erscheinen. Natür­lich weiß niemand genau, welchen Effekt etwa Schul­schlie­ßungen haben werden. Was uns Pande­mien aber lehren: Wir können nicht warten, wir müssen etwas tun.

Steven Taylor ist klini­scher Psycho­loge an der Univer­sity of British Columbia und hat mit “The Psycho­logy of Pande­mics” das vielleicht umfang­reichste Buch über das Thema geschrieben. Er sagt: “Das Aufkeimen von Fremden­feind­lich­keit und Panik­käufe oder die Nachfrage nach Quack­sal­ber­mit­teln – all das kennen wir von vorhe­rigen Pande­mien.” (…) Die vielleicht wichtigste Lektion… Taylor sagt nämlich, es geschehe nicht das während einer Pandemie, was Holly­wood-Filme erzählen. Es komme nicht zum Total­zu­sam­men­bruch, zum Chaos, zum Alle-gegen-Alle. Vielmehr habe man immer wieder beobachtet, dass sich die Menschen gegen­seitig halfen, dass sie nett zuein­ander waren. Während einer Pandemie, das lasse sich immer wieder beobachten, sind Menschen solida­risch mitein­ander.

Gespräch mit dem Verfas­sungs­rechtler Chris­toph Möllers über Corona und Freiheits­rechte in der Süddeut­schen Zeitung vom 30.12.2020.


Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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