Ein Philosoph universaler Menschenrechte im Feuer der Kriegstreiber

Der israe­lisch-deutsche Philo­soph Omri Boehm sollte im April 2025 bei der Gedenk­feier zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ-Lagers Buchen­wald sprechen, einge­laden von der Stiftung Gedenk­stätten Buchen­wald und Mittelbau-Dora. Wie Gedenk­stät­ten­leiter Jens-Chris­tian Wagner dem »Spiegel« erklärte, sah er sich nach einer Inter­ven­tion der israe­li­schen Botschaft gezwungen, Boehms Rede zu verschieben und die Gedenk­feier ohne den Philo­so­phen zu veran­stalten (Bericht Die Zeit). Wagner deutete in einem Gespräch mit dem WDR3 Mosaik an, dass die israe­li­sche Botschaft damit gedroht hatte, Druck auf die aus Israel anrei­senden Zeitzeugen auszu­üben, um eine Rede Boehms zu verhin­dern oder zu skanda­lisieren. Was sind die Hinter­gründe?

Die Utopie einer Republik Haifa

Boehm hat 2020 in dem Buch »Israel – eine Utopie« als Perspek­tive für die Beendi­gung des Nahost­kriegs eine Ein-Staaten-Lösung nach dem Modell der »Republik Haifa« vorge­schlagen. Also eine binatio­nale Födera­tion, in der israe­li­sche und paläs­ti­nen­si­sche Staats­bür­ge­rinnen und ‑bürger die gleichen Menschen- und Bürger­rechte haben. Boehm fand Quellen für diesen Ansatz in den Schriften histo­ri­scher Zionisten wie Theodor Herzl und Wladimir Zeev Jabotinsky sowie in der in der Hafen‑, Indus­trie- und Univer­si­täts­stadt Haifa üblichen Praxis des Zusam­men­le­bens von Juden, Muslimen, Bahai und Christen. Der Pädagoge Micha Brumlik schrieb damals in einer Rezen­sion, in dieser „hoffnungs­vollen Vision“ Boehms schwinge die Erkenntnis mit, dass man nur außer­halb symbo­li­scher Orte wie Jerusalem zu einer lebbaren Lösung kommen könne.

Boehms Position enthielt die Zumutung an Juden, ihre Identität nicht mehr primär über das Trauma der Shoah, und die Zumutung an Paläs­ti­nenser, ihre Identität nicht mehr primär über das Trauma der Nakba, der Vertrei­bungen von 1948, 1967 und später, zu definieren, sondern diese kollek­tiven Vergan­gen­heiten im prakti­schen Alltag zu vergessen. 2025 warf ihm deshalb die israe­li­sche Botschaft vor, er relati­viere die Shoah und beschmutze das Gedenken der Überle­benden.

Mit Kant gegen den Identitätswahn

Dieser Konflikt ist innig mit Boehms Philo­so­phie verknüpft. Anknüp­fend an Immanuel Kant und die bibli­schen Propheten vertritt Boehm in dem Buch »Radikaler Univer­sa­lismus« (2022) den Gedanken, dass die Menschen­rechte Ausdruck einer univer­sellen Wahrheit, eines univer­sellen morali­schen Gesetzes seien und nicht kultu­rell bedingte Konstrukte. Damit wendet er sich gegen linke Identi­täts­po­li­tiker, die den Univer­sa­lismus als eine rassis­ti­sche und sexis­ti­sche Verschleie­rungs­er­zäh­lung kriti­sieren. Gegen rechte Natio­na­listen, die keine Menschen­rechte kennen, sondern nur Familien- und Stammes­rechte. Und auch gegen die liberalen Kollegen John Dewey, John Rawls und Richard Rorty, die mit ihrem “Alles ist relativ”-Dogma die Idee einer absoluten Wahrheit verraten hätten. (Siehe Rezen­sionen.) Boehm will die Mensch­heit wieder auf die Spur einer „absoluten Liebe zu sich selbst“ bringen. Genau diesen Gedanken hatte Gedenk­stät­ten­leiter Jens-Chris­tian Wagner in die Buchen­wald-Geden­k­­ver­an­stal­tung herein­holen wollen. Und genau diesen Gedanken wollen natio­na­lis­ti­sche Israelis dort aussperren, weil er den Natio­na­lismus in Frage stellt, ja, als verlogen, als wahrheits­widrig demon­tiert.

2024 unter­hielten sich Boehm und der Schrift­steller Daniel Kehlmann über die Philo­so­phie Immanuel Kants, veröf­fent­licht in dem Buch »Der bestirnte Himmel über mir«. Darin setzt sich Boehm mit Kants rassis­ti­schen Irrungen ausein­ander, ohne deshalb die anhal­tende Relevanz seiner Philo­so­phie für die Gegen­wart – etwa die Frage der Menschen­rechte – anzuzwei­feln. Kehlmann stellt Kant die morali­sche Frage: Darf man lügen? Auf keinen Fall, antwortet Kant selbst (von Boehm gedol­metscht), auch dann nicht, wenn man einem Mörder sagen müsste, dass sich sein poten­zi­elles Opfer im Haus versteckt. An diesem Rigorismus arbeiten sich Boehm und Kehlmann im Buch ab, so Rezen­sent Thomas Ribi in der NZZ, Boehm wendet ihn gegen Figuren wie Benjamin Netan­jahu, doch Kehlmann plädiert für eine humane Grauzone bei den Moral­fragen (Rezen­sionen).

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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