Nein, die Filterblasen und Echokammern sind nicht schuld

Den seltsamen Wider­spruch habe ich schon mehrfach erwähnt: Einer­seits heißt es dauernd, die sozialen Medien hielten uns in Filter­blasen und Echokam­mern gefangen, in denen wir nur noch Menschen begeg­neten, die unsere Meinungen teilen. Anderer­seits heißt es genauso dauernd, die sozialen Medien hätten zu einer Verro­hung der politi­schen Debatten geführt. Diese beiden Thesen passen einfach nicht zusammen und wider­spre­chen meiner persön­li­chen Erfah­rung, dass Debatten mit verhär­teten Fronten genau dann entstehen, wenn ich im Internet mit politi­schen Gegnern disku­tiere, mich also gerade außer­halb meiner angeb­li­chen Filter­blase bewege. Das hat 2022 der Amster­damer Sozio­loge Petter Törnberg in einer Studie bestä­tigt.

Theresa Bäuer­lein fasste am 1.3.2023 die Studie in Kraut­re­porter zusammen:

Dauernd hieß es in den vergan­genen Jahren, soziale Medien hätten Menschen in Blasen Gleich­ge­sinnter einge­schlossen. Wir hätten verlernt, mit Anders­den­kenden zu kommu­ni­zieren, weil wir ihnen gar nicht mehr begegnen. Statt­dessen verstärken wir online nur noch die vorge­fassten Meinungen unserer Gruppe. Diese sogenannten Echokam­mern galten als Ursache vieler extremer Symptome unserer Zeit, für radika­li­sierte Trump-Anhänger etwa, Impfgegner oder den Brexit. Ich habe das auch geglaubt. Dann erfuhr ich von einer Studie des Sozial­wis­sen­schaft­lers Petter Törnberg von der Univer­sität Amsterdam. Törnberg kommt zu dem Schluss, es sei genau anders­herum.

Ja, soziale Medien polari­sieren. Aber nicht, weil wir uns nur in der eigenen Blase bewegen. Sondern gerade weil wir online ständig auf extrem andere Meinungen stoßen. So verschärft sich die politi­sche Polari­sie­rung. „Digitale Medien isolieren uns nicht von gegen­sätz­li­chen Ideen; im Gegen­teil, sie bringen uns dazu, mit Personen außer­halb unserer lokalen Blase zu inter­agieren, und sie stürzen uns in einen politi­schen Krieg, in dem wir gezwungen sind, Partei zu ergreifen“, schreibt er. So verhärten sich Identi­täten.

Es ist wichtig zu verstehen, dass es bei Törnbergs Analyse um Gespräche im Internet geht. Im echten Leben, meint er, kommen wir mit anderen Meinungen besser klar, weil Menschen sich in einem Kontext treffen, der größer ist als ein paar Zeilen Text im Internet. Sie teilen zum Beispiel die Liebe zu einem Fußball­verein oder gehen in die gleiche Kirche. Das kann Brücken schaffen, die es im Internet nicht gibt, wenn Fremde aufein­an­der­treffen.

Offenbar gibt es für die Existenz der angeb­lich allge­gen­wär­tigen Filter­blasen und Echokam­mern bislang keinerlei empri­ri­schen Belege. Sie werden einfach vermutet und beruhen wohl auf Unter­stel­lungen. Denn jeder einzelne ist von sich selbst davon überzeugt, dass er oder sie natür­lich andere Meinungen zur Kenntnis nehme. Aber die anderen da draußen! Die tun das bestimmt nicht, die sind ja bekannt­lich alle dumm, verbohrt, engstirnig. Das Gerede von den Filter­blasen ist also ein klassi­sches Dünkel­dogma: Man will als besser erscheinen als die “Masse” und außerdem über ein neueres Medium die Nase rümpfen.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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