Anlässlich der VW-Diesel-Krise musste das jahrzehntealte Zahlendogma der deutschen Betonköpfe wieder mal herhalten: “Jeder siebte deutsche Arbeitsplatz hängt direkt oder indirekt von der Autoindustrie ab”, behauptete Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel laut NDR am 22.9.2015,* ohne auch nur den Schatten eines Belegs für seine steile These beizubringen. Allerdings fragte ihn bis jetzt auch niemand nach einem Beleg, da alle Journalisten das Dogma eben seit Jahrzehnten kennen. Es ist jedoch eindeutig falsch. Im Buch nenne ich die wirklichen Zahlen:
- 761.000 Arbeitsplätze gab es 2008 in der deutschen Autoindustrie inklusive aller ausgewiesenen Zulieferbetriebe, Vertragshändler und Vertragswerkstätten, nach Angaben von Bundeskanzlerin Merkel und des einschlägigen Verbandes. Damals gab es das Opel-Werk in Bochum noch.
- Rund 42,8 Mio. Erwerbstätige gab es in Deutschland im Frühjahr 2015 (nach statista.com).
- Das macht, nach Adam Riese, rund ein Fünfzigstel. In Wirklichkeit hängt nur jeder 50. deutsche Arbeitsplatz von der Autoindustrie ab.
Wie zaubern die deutschen Betonköpfe aus dem Fünfzigstel ein Siebtel herbei? Dafür benutzen sie das Zauberwort “indirekt”, ohne es jemals irgendwo zu definieren. Sie zählen z. B. alle Angestellten der Kfz-Versicherungen mit, obwohl diese nicht nur nagelneue VWs, BMWs, Mercedesse und Opels versichern, sondern auch Toyotas, Fiats, Renaults, Mitsubishis und uralte VWs. Ihre Arbeitsplätze hängen zwar von der Existenz von Autos ab, aber nicht von der aktuellen Produktion deutscher Autokonzerne.
Die Zeitschrift “Capital” ermittelte 2009, dass die Zahl erstmals 1980 verbreitet wurde. Auch damals konnte der Verband der Automobilindustrie aber selbst bei großzügigster Rechnung nur jeden 15. Arbeitsplatz mit der westdeutschen Autoindustrie verknüpfen. Das Siebtel kam dadurch zustande, dass man, wie oben schon vermutet, jeden Arbeitsplatz mitgezählt hat, der irgendwie mit der Existenz von Autos zusammenhängt (Politessen, Schrotthändler, Straßenplaner, Rettungssanitäter). Siehe Telepolis 21.5.2009; Spiegel Online 20.5.2009.
Oder die Zahl stammt aus der Zeit, als in Städten wie Bochum die Hälfte aller Arbeiter bei Opel beschäftigt war. In dieser Zeit waren sicher auch Zigtausende von Arbeitsplätzen in Lebensmittelgeschäften, Kiosken, Gaststätten, Arztpraxen usw. von den Einkommen dieser Arbeiter abhängig. Das ist aber nicht nur in Bochum schon lange vorbei. Es ist blühender Unfug anzunehmen, dass jeder Beschäftigte eines Autowerks mit seinem Gehalt sieben weitere Arbeitsplätze finanziert. Das aber müsste er, damit aus den 761.000 direkten 6 Mio. “direkte und indirekte” Arbeitsplätze werden.
Übrigens hängt tatsächlich jeder siebte deutsche Arbeitsplatz direkt vom Gesundheitswesen ab. Und wenn wir so rechnen wie die Betonköpfe, können wir mit Fug das Antidogma verkünden:
Jeder dritte deutsche Arbeitsplatz hängt (direkt oder indirekt) vom Gesundheitswesen ab.
*Möglicherweise stammt die Zahl dort gar nicht von Gabriel, sondern von der Autorin Dagmar Pepping.
Hallo,
und was ist mit der Elektroindustrie? Sie hängt auch maßgeblich von der Automobilindustrie ab. Und die Rohstoffproduzenten-/Zulieferer? Speditionen (für die Autoteile, sind ja nicht die Zulieferbetriebe selbst, die produzieren ja nur die Autoteile, liefern sie aber selten selber aus), der gesamte Maschinenbau – der hängt davon ab, wie hoch die Nachfrage nach entsprechenden Maschinen ist, wenn da ein großer Sektor weg fällt, so ist auch dieser in großer Gefahr.
Durch das Einbrechen/Wegfallen einer ganzen Industrie haben viele Menschen deutlich weniger Geld, was sie ausgeben könnten – das erlahmt die Wirtschaft weiter ungemein. Die Folgen daraus sollten klar sein,… naja, hoffe ich zumindest.
Ebenfalls leidet das internationale Image der deutschen Industrie, was zur Folge hat, dass das Ausland weniger deutsche Produkte nachfragen wird.
Ich lobe Ihre Kurzsichtigkeit!
Danke.
Die Elektroindustrie hängt aber genau so gut vom Gesundheitswesen ab, weil es in Krankenhäusern jede Menge Elektrogeräte gibt. Oder von der Medienproduktion: Gäbe es kein Fernsehprogramm, dann gäbe es keinen Bedarf nach Fernsehern. Seltsamerweise wird die Rechnung mit der Abhängigkeit aber m. W. nur mit der Autoindustrie gemacht und nie mit anderen Branchen. So entsteht die Fiktion, dass z. B. die Elektroindustrie nur von der Autoindustrie abhänge und nicht von anderen Branchen. Übrigens können deutsche Elektrokonzerne auch französische Autokonzerne beliefern. Sie sind also nur begrenzt von deutschen Autokonzernen als Kunden abhängig.
Von sieben Punkten sind Sie lediglich auf einen eingegangen. Wobei ich an einer Stelle sogar die Folgen nicht aufgezählt habe, sodass es eigtl. sogar deutlich mehr Punkte wären.…
LG
Immerhin war das der erste, den Sie genannt haben, also der wichtigste, wie ich annehme 😉
Gut, ich greife noch einen auf, Ihren letzten: Das Image der deutschen Industrie. Das leidet zurzeit durch die betrügerischen Machenschaften der deutschen Autokonzerne und ihre notorische Unfähigkeit, sich an neue Zeiten und neues Denken anzupassen. Es ist doch allzu billig, das jetzt denen in die Schuhe zu schieben, die seit Jahren vor diesen Fehlleistungen und ihren Folgen warnen.