Politik? Nein, Haus- und Grundbesitz verdirbt den Charakter

Im Buch kriti­siere ich, anknüp­fend an Axel Eggebrecht, das konser­va­tive Dogma „Politik verdirbt den Charakter“. In dieser Form ist es nicht mehr üblich, aber sinngemäß geistert es weiterhin durch zahllose öffent­liche und private Debatten, etwa in der Form: „Politiker sind sowieso alle korrupt.“ Oder einfach in Form des gnadenlos schlechten Ansehens, dass der Berufs­stand des Politi­kers besitzt. Eggebrecht wider­sprach dem Dogma um 1980, indem er einen Satz des öster­rei­chi­schen Politi­kers Julius Raab aufgriff: „Nicht Politik verdirbt den Charakter, sondern schlechte Charak­tere verderben die Politik.“

Am ursprüng­li­chen Dogma ist natür­lich etwas dran, weil Politik mit Macht­kämpfen verbunden ist…

…und Macht­kämpfe oft eher unsym­pa­thi­sche Charak­ter­züge der Betei­ligten hervor­treten lassen. Wie stark die modische journa­lis­ti­sche Darstel­lung von Politik dieses Negativ­bild ausmalt, darauf wies der Polito­loge und Sozial­de­mo­krat Thomas Meyer 2015 in seinem Buch “Die Unbelang­baren” hin. In einem langen Inter­view mit Georgios Chatz­oudis von der Gerda-Henkel-Stiftung kriti­siert er z. B. die Neigung sehr vieler führender Politik­jour­na­listen, sich nur noch für die Macht­kämpfe einzelner Personen zu inter­es­sieren und überhaupt nicht mehr für die Meinungen und Ideen dieser Personen. Wenn Seehofer und Merkel um die Frage streiten, ob man Flücht­linge an der Grenze inter­nieren oder durch­lassen soll, geht es vielen Journa­listen nicht um Menschen­rechte oder die mögli­chen Folgen für Deutsch­land und die Welt, sondern ausschließ­lich darum, ob ein Mann namens Seehofer stärker ist als eine Frau namens Merkel. Kein Wunder also, wenn viele Menschen bei Politik nur noch an Rivalen­kämpfe denken.

In meiner Dogmen­kritik weise ich darauf hin, dass Macht­kämpfe in der Familie, Erbstrei­tig­keiten oder das lächer­liche Terri­to­ri­al­ver­halten benach­barter Zaunbe­sitzer viel häufiger vorkommen und ganz ähnlich wirken. Folglich bieten sich Antidogmen an wie „Familie verdirbt den Charakter“ oder „Haus- und Grund­be­sitz verdirbt den Charakter“. Letzteres bestä­tigte der pensio­nierte Schei­dungs­richter Helmut Seidl 2015 in seinem Buch „Unglaub­liche Schei­dungs­ge­schichten“. Er resümiert dort: „Grob kann man sagen: Je mehr Vermögen, desto größer der Streit.“ (Neue Westfä­li­sche 4.7.2015, Magazin)

Demnach verdirbt also Reichtum den Charakter. Anderer­seits hat Bertolt Brecht in seinem Stück „Der gute Mensch von Sezuan“ und vielen anderen Texten seine These ausge­führt, dass Armut den Charakter verderbe, weil sie Menschen in der Not dazu zwinge, anderen Menschen zu schaden, um sich selbst zu retten. Eine philo­so­phi­sche Streit­frage, die ich an dieser Stelle offen lasse. Vielleicht hast du eine Antwort? Dann schreibe sie hier drunter!

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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