Hallo Vergewaltiger! So klappt es mit der Vergebung des Opfers

Als Überle­bender eines sexuellen Missbrauchs in meiner Kindheit hörte ich am Karfreitag 2019 in der WDR-Reihe »Lebens­zei­chen« einen Beitrag von Chris­toph Fleisch­mann: »Über den Umgang der Kirche mit Schuld | Verge­bung oder Gerech­tig­keit?« Es ging um den sexuellen Missbrauch in katho­li­schen Inter­naten usw. und den Umgang mit Opfern und Tätern dieser Verbre­chen. Dabei wurde proble­ma­ti­siert, wie stark katho­li­sche Geist­liche darauf aus sind, dass die Opfer den Tätern ihre Tat vergeben. Das tue auch den Opfern gut, sagen die Bischöfe. Eine Zumutung! Sie leidet an einem großen Denkfehler.

Es gibt im Chris­tentum ein Ritual der Buße, der Barmher­zig­keit und Verge­bung, das immer auf die Sünder und damit auf die Täter, auf die Verbre­cher ausge­richtet ist. Wobei die Verbre­cher in diesem Ritual in der Masse der Sünder, also aller Menschen, gnädig unter­tau­chen dürfen. Dabei fiel mir auf, dass die Kirche offenbar keine Rituale kennt, die darauf abzielen, den Opfern von Verbre­chen Erlösung von ihrem Leiden zu verschaffen. Als Überle­bender eines schweren sexuellen Missbrauchs, den ein Nachbar meiner Großel­tern 1964 in Iserlohn an mir als vierjäh­rigem Jungen verübt hat, weiß ich sehr gut, was einer der Opfer­spre­cher meinte, als er sagte: „Ich habe lebens­läng­lich.“

Fleisch­hauer zitierte eine Psycho­login, die darauf hinwies, dass die Täter meist Mittel und Wege finden, ihre Tat zu verdrängen, die Opfer aber meist keine Chance haben, die Tat zu vergessen. Schon dadurch entsteht eine syste­mi­sche Ungleich­heit, vielmehr: die Ungleich­heit der Tatsi­tua­tion setzt sich auch in der indivi­du­ellen Verar­bei­tung der Tat fort. Und sie setzt sich, wie hier gezeigt, im gesell­schaft­li­chen Umgang mit den Taten fort.

Die Bischöfe rufen die Opfer dazu auf, den Tätern zu vergeben. Sie weisen die Opfer darauf hin, dass eine Verge­bung der Schuld heilsame Wirkung auch auf sie, die Opfer, ausübe, dass Schmerz und Verbit­te­rung auf diese Weise aufge­löst werden könnten. Darüber habe ich als Opfer nachge­dacht und habe versucht, eine solche Situa­tion nachzu­emp­finden. In der Tat: Wenn ich mir vorstelle, wie jener Nachbar, ein gewisser Herr Liebe (er hieß wirklich so!), aus eigenem Antrieb zu mir kommt, mich bittet, ihn zu empfangen und mir sagen zu dürfen, dass er sich schuldig bekenne; wenn ich mir vorstelle, wie er mich auf Knien weinend um Verge­bung bittet – ja, natür­lich würde ich ihm dann vergeben! Und ja, das wäre wirklich heilsam für mich.

Aber wo ist jemals eine solche Szene passiert? In meinem Fall ist der Täter schon seit Jahrzehnten tot. Er starb, bevor mir das Gesche­hene bewusst werden konnte. Das trifft auch auf viele Täter im katho­li­schen Milieu zu. Aber dort leben noch viele Mittäter: Der frühere Jesui­ten­schüler, der in einem Internat missbraucht wurde, wies auf überle­bende Jesui­ten­pa­tres hin, die den Täter damals nicht gestoppt haben, die die Tat vertuscht haben, um das Internat als Insti­tu­tion, sein Image und seine Geld¬quellen zu schützen. Von diesen Schul­digen wünscht sich das Opfer, dass sie ihn um Verge­bung bitten. Sie tun es nicht. Sie werden offenbar auch von niemandem gedrängt, so etwas zu tun.

Statt­dessen tritt die Bischofs­kon­fe­renz als Organi­sa­tion dazwi­schen, gewährt auf der einen Seite den Tätern Verge­bung und äußert auf der anderen Seite gegen­über den Opfern den Wunsch, sie möchten den Tätern doch bitte ebenfalls vergeben. Ohne dass jemals jemand persön­lich einem Opfer gegen­über seine Schuld bekannt hätte. Das ist der große Irrtum, der dort gerade insze­niert wird.

Bezeich­nend eine Szene, in der Kardinal Reinhard Marx gefragt wurde, ob er persön­lich eine Schuld gegen­über den Opfern empfinde. Marx verschränkte seine Arme und sagte Nein, ohne das Wort Nein auszu­spre­chen. Er sagte, er habe damals gemäß den Richt­li­nien gehan­delt. Ob diese Richt­li­nien „aus heutiger Sicht“ richtig gewesen seien, sei eine andere Frage. Schuld war also nicht er, der Bischof, schuld waren die Richt­li­nien. Heißt das, die Richt­li­nien müssen zu den Opfern gehen und sie um Verge­bung bitten? Wer hat denn damals die Richt­li­nien formu­liert und beschlossen?

Ja, es mag sein, dass es vielen Tätern und Mittä­tern unmög­lich ist, ihren Opfern gegen­über­zu­treten. Etwa so unmög­lich, wie es den Opfern ist, ihre Alpträume abzustellen. Doch auch in diesem Fall wäre eine echte Verge­bung möglich. Nämlich dann, wenn z. B. Kardinal Marx in die Rolle eines Opfers schlüpfen könnte und so die Bitte eines Täters um Verge­bung entge­gen­nehmen könnte; und dann zum Opfer hingehen würde, dort in die Rolle des Täters schlüpfen würde und so das Opfer um Verge­bung bitten würde. Auch dann würde die heilsame Wirkung der Verge­bung wahrschein­lich eintreten. Also, Herr Marx! Ihr Auftritt!

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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