Warum Pazifisten stets versagen und Generäle stets siegen

Pazifisten müssen sich seit jeher mit dem Dogma ihrer Gegner herumschlagen: „Wie sinnlos Pazifismus ist, siehst du daran, dass es immer noch jede Menge Krieg gibt. Die Welt ist nun einmal ein Kampfplatz, und der Mensch ist des Menschen Wolf.“ Schauen wir uns hier den ersten Teil des Dogmas an: Bedeutet die Fortexistenz von Kriegen tatsächlich, dass die Pazifisten versagt haben? Vor allem unter dem Aspekt, wenn wir Erfolg und Versagen von Pazifisten (und ihre öffentliche Wahrnehmung) mit Erfolg und Versagen von Generälen vergleichen.

Der britische Staatsmann und Pazifist Ramsey MacDonald schrieb 1926, vor 90 Jahren, über Krise und Zukunft des Völkerbundes (eines 1919 gegründeten Staatenbundes zur Verhinderung von Kriegen): »Der Völkerbund leidet, wie ein im öffentlichen Leben stehendes Individuum, unter der Tatsache, dass seine Erfolge unbeachtet bleiben, während seine Misserfolge meistens die öffentliche Aufmerksamkeit erregen.«[1]

Sein Vergleich mit dem öffentlichen Individuum stimmte nicht ganz. Bei Paul von Hindenburg und Erich Ludendorff z. B. war es genau umgekehrt: Die beiden Generäle hatten hundert Schlachten und einen ganzen Krieg, den bis dahin furchtbarsten, verloren – aber im Gedächtnis blieben sie großen Teilen der deutschen Öffentlichkeit durch die eine Schlacht, die sie gewonnen hatten (die von Tannenberg im August 1914). Ich werde nicht müde darauf hinzuweisen, dass die Landverbindung der Insel Sylt bis heute nach dem großen Kriegstreiber und Kriegsverlierer Hindenburg benannt ist, und zwar in Erinnerung an die eine seiner hundert Schlachten, die er gewonnen hat. Eine Tannenbergstraße gab es jahrzehntelang in jeder deutschen Stadt.

MacDonald nannte im Folgenden selber Gründe für das schlechte Image des Völkerbundes. Der einzige Zweck des Völkerbundes liege darin, Kriegsursachen wegzuräumen. »Versagt er hierin, so versagt er vollständig…« Der eine Krieg, der dann doch stattfand, trotz Völkerbund, zerstörte also rückwirkend den kompletten Versuch. Hingegen ist es offenbar nicht die Aufgabe von Generälen, einen Krieg zu gewinnen. Es reicht den Militaristen völlig aus, wenn sie eine einzige Schlacht gewinnen. Ja, sogar die dürfen sie verlieren wie Leonidas, wenn sie es nur geschafft haben, eine heldische Haltung zu bewahren. – Ich weiß: Leonidas ist kein ganz gutes Beispiel, denn der Krieg der Griechen gegen die Perser wurde am Ende gewonnen. – Die Aufgabe des Generals also ist es, Haltung zu bewahren und seinen gehorsamen Soldaten sowie ihren standhaften Witwen und Waisen eine Haltung vorzumachen, die sie nachahmen können. Wie der Krieg am Ende ausgeht, ist den Militaristen egal. Wir erleben es gerade in Usa: Ein General, der Kriege in Afghanistan und dem Irak verloren hat, wird zum Dank zum Verteidigungsminister ernannt, wofür die Militaristen sogar eine Verfassungsbestimmung außer Kraft setzen wollen.

Die Erwartung an Pazifisten ist viel größer als die an Generäle. Erstere sollen mit einem Schlag sämtliche Kriege der Welt beenden, letztere sollen fesch und schneidig auftreten und akkurat herumbefehlen können. Ein weiterer Grund für das prinzipielle Versagen aller Pazifisten liegt darin, dass ein verhinderter Krieg kein historisches Ereignis ist, eine gewonnene Schlacht jedoch schon. Die Schlacht bekommt einen Namen und eine Jahreszahl, der verhinderte Krieg bekommt nichts dergleichen. Folglich vergessen wir ihn. Die Kubakrise von 1962 ist einer der wenigen verhinderten Kriege mit einem Namen – aber dieser Name weckt vor allem die Erinnerung an eine knapp überstandene Todesangst. Da ist kein Platz für Freude.

Der lange Atem der Pazifisten

Arbeit und Verdienst der Pazifisten ist prozesshaft und komplex. Manchmal kulminiert sie zu Friedensabkommen, zu Verträgen, die einen Namen bekommen und idealerweise mit dem Friedensnobelpreis belohnt werden: die Locarno-Verträge 1926, die Römischen Verträge 1957, der Warschauer Vertrag 1970, das Camp-David-Abkommen 1978, der Oslo-Friedensprozess 1993/94 . Das sind zwar historische Ereignisse, über die wir uns hätten freuen können – wenn sie nur nicht so eng mit der Erinnerung an vorausgegangene Kriege verknüpft wären, oder an Kriege, die die Militaristen danach wieder neu anzetteln konnten, nachdem einer von ihnen den hauptverantwortlichen Pazifisten ermordet hatte. Dazu kommt: Verträge werden von Diplomaten ausgehandelt. Und Diplomaten haben in der konservativ-militaristischen Weltsicht und Geschichtsschreibung einen denkbar schlechten Ruf: Sie gelten als berufsmäßige Lügner und durchtriebene, ganovenhafte Lumpen. Dabei haben alle Diplomaten der Weltgeschichte zusammengerechnet wahrscheinlich nicht halb so viele Lügen auf dem Gewissen, wie die beiden Generäle Hindenburg und Ludendorff in den sieben Jahren 1914 bis 1920 erfolgreich in Deutschland platziert haben. Aber die Diplomaten haben kein Tannenberg vorzuweisen – nichts, was man bierselig grölend abfeiern könnte.

Der Mut der Pazifisten

Ramsey MacDonald nannte 1926 noch einen Grund für den schweren Stand der Pazifisten, der bis heute Bedeutung hat: »Die Zukunft des Völkerbundes hängt zuallererst davon ab, wieweit seine Mitglieder bereit sind, moralischen und politischen Widerstand gegen diejenigen Nationen zu leisten, deren aggressiver Nationalismus seit jeher Kriege verursacht hat.« Und das ist eine Frage des persönlichen Mutes. Wie viel Mut das erfordert, haben Jean Jaurès (+1914), Karl Liebknecht (+1919), Rosa Luxemburg (+1919), Kurt Eisner (+1919), Hugo Haase (+1919), Theodor Lessing (+1933), Carl von Ossietzky (+1938), Mahatma Gandhi (+1948), Patrice Lumumba (+1961), Dag Hammarskjöld (+1961), Martin Luther King (+1968), Steve Biko (+1977), Aldo Moro (+1978), Óscar Romero (+1980), Bernadette Devlin McAliskey (niedergeschossen 1981), Olof Palme (+1986), Melchior Ndadaye (+1993), Jitzchak Rabin (+1995), Stéphane Charbonnier (+2015) und viele andere am eigenen Leibe erfahren.

Welcher Widerstand hilft gegen Kriegstreiber?

Leider bleibt MacDonald sehr schwammig bei der Frage, wie der Widerstand gegen Kriegstreiber aussehen soll: »Die Völker [und ihre Diplomaten, darf ich ergänzen] dürfen sich nicht fürchten, diese aggressiven Völker [bzw. die Kriegstreiber innerhalb dieser Völker, darf ich korrigieren] wissen und fühlen zu lassen, dass sie von ihnen mit einer viel kühlern Herzlichkeit behandelt werden als die, deren Politik friedlich ist.« Das erscheint mir ziemlich wenig Strafe für die Kriegstreiber und ziemlich wenig Lohn für die Friedfertigen. Die »kühle Herzlichkeit« für Aggressive hat die UNO inzwischen verfeinert bis hin zu gezielten Sanktionen wie Einreiseverbote und Kontosperrungen, die einzelne Kriegstreiber persönlich treffen sollen. Aber der ganze Mechanismus bleibt in einem Dilemma gefangen: Die Sanktionen sind nicht wirksam genug, um den Kriegstreibern nachhaltig zu schaden, aber wirksam genug, um ihren Stolz zu verletzen und ihren Trotz herauszufordern. Sie wirken wie zu schwach dosierte Antibiotika. Sie liefern den Getroffenen gute Vorlagen, um mit generalsmäßiger Haltung darauf reagieren zu können. Die Pazifisten stoßen immer wieder auf das Problem, dass sie keinen Krieg gegen die Kriegstreiber führen können. Wo sie es versucht haben wie 1999 im Kosovo, haben sie das Drama verschlimmert.

Sozialisten und Kommunisten haben traditionell gesagt: Der größte Feind steht im eigenen Land. Enteignet Heckler & Koch! Aber, Genossinnen und Genossen, glaubt ihr wirklich, dass es die Dschihadisten in Syrien beeindrucken wird, wenn wir Heckler & Koch enteignen? (Was kein Grund sein soll, Heckler & Koch nicht zu enteignen. Ich bin dafür.)

Möglicherweise liegt die Lösung auf der anderen Waagschale: Die Belohnung für die Friedfertigen muss größer ausfallen.

Das Antidogma zum Thema könnte lauten:

Pazifisten weinen mutig, Generäle wahren die Haltung.

Geschrieben Dezember 2016, das Antidogma November 2022

[1]    R. MacDonald: Die Zukunft des Völkerbundes. Die Weltbühne 31, 3.8.1926, S. 173

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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