Warum Conchita Wurst die Geschlechterrollen stabilisiert

Nach einer groß angelegten Umfrage der »Zeit«, der sog. ZEIT-Vermächtnis-Studie von 2016, wollen sich 3,3 % der Deutschen, also rund 2,5 Millionen Menschen, nicht als Mann oder als Frau definieren lassen. Julia Friedrichs behauptete in der Titelgeschichte des Zeit-Magazins vom 14.6.2017, diese Menschen wandelten „im Niemandsland zwischen den Geschlechtern“ (was ich weiter unten bestreite). Kann man aus dem Treiben dieser beachtlichen Minderheit schließen, dass die Einteilung der Menschen in zwei Geschlechter künstlich sei und sich auflösen lasse?

Kann man gar prophezeien, wie es offenbar eine Autorin in der New York Times getan hat, dass uns in einer Generation (also in 30 Jahren, also um 2050) „die Einteilung in Geschlechter vielleicht so seltsam vorkommen (wird), wie uns die Rassensegregation von einst heute erscheint“? Das ist, gelinde gesagt, sehr voreilig; denn zunächst handelt es sich hier um das altbekannte Phänomen, dass sehr viele Kategorien unscharfe Ränder haben. Zwischen Deutschen und Franzosen leben die Elsässer, das sind deutschsprachige Franzosen. Zwischen Deutschen und Dänen leben dänisch-, friesisch- und missingschsprachige Deutsche sowie deutsch-, friesisch- und missingschsprachige Dänen. Trotzdem sind die Kategorien „Deutsche“, „Franzosen“ und „Dänen“ sinnvoll, bezeichnen gewachsene, leicht definierbare Unterschiede und verschwinden nicht. Das gilt natürlich erst recht für die Kategorien Mann und Frau. Wie könnten sie verschwinden in einer Welt, die von Menschen geprägt wird, die sich sexuell und in Liebesdingen nach Menschen eines bestimmten Geschlechts sehnen? Auch Männer, die sich nach Männern sehnen, und Frauen, die sich nach Frauen sehnen, kategorisieren sich selbst und ihre Mitmenschen nach ihrem Geschlecht.

Wenn wir genauer hinsehen, gilt das wohl auch für jene 2,5 Millionen. Die meisten davon wandeln nicht wirklich im Niemandsland. Denn der größte Teil dieser Menschen dürften Transsexuelle (Transgenders) sein. Das sind zum Beispiel Menschen, die als Jungen bzw. Männer geboren wurden und aufgewachsen sind und später beschlossen haben, lieber eine Frau sein zu wollen. Diese Menschen wissen sehr gut, was männlich ist (nämlich all das, was sie los werden wollen) und was weiblich (nämlich all das, was sie anstreben). Das bedeutet, dass sie die traditionellen Geschlechterrollen reproduzieren und gerade nicht überwinden. Ich nehme es als Hinweis darauf, dass die Kategorien Mann und Frau selbst in der Trans-Szene sehr kräftig und sehr lebendig sind; also alles andere als künstlich.

Eine Person, die sich umgekehrt von ihrem früheren Frausein lösen will, ziert als Covergirl im Profil die Titelseite. Auf einem anderen Foto im Halbprofil sehen wir die andere Kopfhälfte: Da sieht sie wie ein junger Mann aus. Sie bezeichnet sich als non-binär, als Mensch, der keinem der beiden Geschlechter angehören will. Sie ist also aus der Weiblichkeit ausgetreten wie einst Tucholsky aus dem Judentum, ohne in die Männ­lichkeit einzutreten. Und doch inszeniert sie (die Person) ihr Gesicht gerade nicht geschlechtsneutral, sondern rechts weiblich und links männlich. Ähnlich macht es Conchita Wurst (die die Autorin nicht erwähnt, vielleicht weil ihr die Figur zu peinlich ist). Bei Conchita ist es allzu offensichtlich ein Schauspiel: Sie inszeniert sich als dunkelhaarige Diva, also oben und unten als extrem weibliche Figur, dazwischen mit schwarzem Vollbart, also als Supermacho, als extrem männliche Figur. Würden sich die Geschlechterrollen wirklich auflösen, würde diese Scharade völlig unverständlich. Conchitas Spiel funktioniert nur, so lange es ein Frauenklischee und ein Männerklischee gibt. Ist das, was die non-binäre Person macht, nicht etwas Ähnliches? Beide überwinden, so scheint mir, die Geschlechterrollen nicht.

Das heißt: Wenn es nach den Transsexuellen und den Non-Binären geht, die Friedrichs zitiert, dann bleiben Männer- und Frauenrollen auf ewig erhalten. Und wenn es nach dem Rest der Welt geht, den 96,7 % – dann sowieso.

Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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