Kolonialismus oder Antisemitismus? Arnold Gehlen hilft weiter

Aktuelle Ausein­an­der­set­zungen wie die um indone­si­sche Wandbilder auf der documenta fifteen (2022) oder um den Terror des 7. Oktober 2024 und den anschlie­ßenden Gazakrieg führen immer wieder in eine Sackgasse, in der der Schutz von Jüdinnen und Juden vor antise­mi­ti­scher Gewalt und der Kampf mit dem kolonia­lis­ti­schen Erbe in einen unüber­brück­baren Gegen­satz zu geraten scheinen.  Meine These ist, dass die histo­ri­sche Analyse des Nazire­gimes Tritt­steine gesetzt hat, die aus der Sackgasse heraus­führen können. Ich blicke über 30 Jahre zurück: Der Histo­riker Chris­tian Graf v. Krockow analy­sierte 1990 in seinem Essay »Die europäi­sche Vernunft und das deutsche Drama«[1] die Frage, warum es in Deutsch­land [und Italien] ein faschis­ti­sches Régime gab, in Großbri­tan­nien, Frank­reich [und Usa] jedoch nicht. Dort bezog er sich auf den konser­vativ-faschis­ti­schen deutschen Sozio­logen Arnold Gehlen. Über Gehlen und Krockow kommen wir einen Schritt weiter, wenn wir den Kolonia­lismus in die Analyse mit einbe­ziehen.

Krockows Grund­these ist, dass die europäi­sche Geschichte, auch die der europäi­schen Macht- und Großmacht­po­litik, beschö­ni­gend meist „Staats­räson“ genannt, von einer Tradi­tion der Aufklä­rung und Vernunft getragen gewesen sei. Das „deutsche Drama“ von 1914–1945 habe hingegen die Grenzen dieses Denkens gesprengt. Krockow zitiert als Referenz ausführ­lich Werke des deutschen Sozio­logen Arnold Gehlen[2], von denen er sagt, Gehlen habe dort „eine, nein: die faschis­ti­sche Theorie entworfen und vollendet, auf dem aller­höchsten Refle­xi­ons­ni­veau, das sie überhaupt zu errei­chen vermag“.[3] Sie beruht auf der Annahme, der Mensch sei als „nicht-festge­stelltes Tier“ (Nietz­sche) ohne leitende Instinkte, als reizüber­flu­tetes, unend­lich plasti­sches und versehr­bares Wesen auf „überper­sön­liche Insti­tu­tionen“ angewiesen, um Stabi­lität zu gewinnen: „der Staat, die Familie, die wirtschaft­li­chen, recht­li­chen Gewalten usw.“ (Gehlens Herlei­tung lässt sich schon vom biolo­gi­schen Stand­punkt aus kriti­sieren; das beiseite gesagt.) Denen müsse er sich unter­werfen, sich sogar ihrem Dienst opfern, sich von ihnen „konsu­mieren“ lassen, um nicht zu verun­glü­cken. „Wenn diese Insti­tu­tionen im Geschiebe der Zeiten in Verfall geraten, abbrö­ckeln oder bewusst zerstört werden, fällt diese Verhal­tens­si­cher­heit, man wird mit Entschei­dungs­zu­mu­tungen gerade da überlastet, wo alles selbst­ver­ständ­lich sein sollte.“[4]

In seinem Werk »Urmensch und Spätkultur« (1956) identi­fi­zierte Gehlen den „mosai­schen Monothe­ismus“, also das Judentum als Religion, als Ursprung jener verhängnis­vollen Aufklä­rung, die die Menschen darauf brachte, ihre heiligen Insti­tu­tionen zu kriti­sieren und so den Weg des Zerfalls der Kultur zu beschreiten. (Wie sinnvoll eine Theorie sein kann, in der seit rund 3000 Jahren die Kultur zerfällt, sei mal dahin­ge­stellt.) Krockow sieht bei Gehlen eine deutsche Tradi­ti­ons­linie des Obrig­keits­staates, der auf Herrschaft und Fremd­disziplinierung gegrün­deten Zivili­sa­tion im Kampf gegen die „offene Gesell­schaft“ des Westens. Er beruft sich auf die Philo­so­phen Karl Popper und Helmuth Plessner.[5]

Meine eigenen Gedanken dazu kreisen um die Frage, ob der Unter­schied zwischen briti­scher, franzö­si­scher, usami­scher Zivili­sa­tion auf der einen und deutscher, italie­ni­scher auf der anderen Seite, jener also, die faschis­ti­sche Regimes herbor­brachte, etwas mit dem Kolonia­lismus zu tun haben könnte. Großbri­tan­nien und Frank­reich waren tradi­tio­nelle Koloni­al­mächte; Deutsch­land und Italien dagegen hatten den Zug zur Koloni­al­macht im 18. und frühen 19. Jahrhun­dert verpasst, weil sie da noch national zersplit­tert waren. In Usa rotteten die weißen Siedler zunächst in kolonia­lis­ti­scher Tradi­tion die Indigenen aus, kulti­vierten die Sklaverei, dann schafften sie es, im 19. Jahrhun­dert die zerfal­lende Koloni­al­macht Spanien zu beerben, im 20. Jahrhun­dert auch das briti­sche Empire. Andere Unter­schiede betreffen (nur in Deutsch­land?) die willige Unter­wer­fung unter herrschende Obrig­keiten und die Rolle von Außen­sei­tern, „Verrä­tern“ und „Sünden­bö­cken“, auf die etwaige kollek­tive Aggres­sionen gelenkt werden: die Juden in Deutsch­land, weniger ausge­prägt die Freimaurer in Italien.

In Krockows Essay fällt mir auf, dass ein Bezug zum Kolonia­lismus völlig fehlt. Krockow zitiert  Hannah Arendt, die in ihrem Totali­ta­ris­mus­buch die Wurzel des Phäno­mens schon in Thomas Hobbes‘ Vision eines Bürger­staates gesehen hat. Die sei, so Arendt, zum Glück 300 Jahre lang ignoriert worden, aus Mangel an Konse­quenz, zugunsten einer „segens­rei­chen Heuchelei, der erst ihr [der bürger­li­chen Gesell­schaft] Spröß­ling, der Mob, ein Ende berei­tete“.[6] Damit meinte sie den Faschismus der 1920er Jahre. Diesen als Emotion des Mobs zu sehen, ist zwar analy­tisch schwach und ahisto­risch; aber die briti­sche, franzö­si­sche, usami­sche Heuchelei, die Arendt bemerkte und die Krockow nicht verstand, bezog sich, so darf ich vermuten, auf den Kolonia­lismus. In den Kolonien pflegten die briti­schen und franzö­si­schen Herren keine offenen Gesell­schaften und keine bürger­liche Gleich­heit, sondern kulti­vierten die Sklaverei, huldigten plumpen Herrschafts­prin­zi­pien und Grausam­keiten. Wenn die italie­ni­schen und deutschen Faschisten diese Prinzi­pien in Europa anwandten, z. B. gegen Albaner, Tsche­chen, Polen, Russen oder Ukrainer, dann hatten sie von den Briten in Indien, Ägypten, dem Sudan und Südafrika, den Franzosen im Senegal und in Algerien, den Amis in India­ner­ge­bieten gelernt.

Wozu brauchten Musso­lini und Hitler aber ihre verhassten Außen­seiter? Zunächst hatten sie die ganz persön­lich-biogra­phisch gebraucht. Als Parvenüs waren die beiden Dikta­toren in jungen Jahren auf die zunächst übermäch­tige Konkur­renz jüdischer oder freimau­re­ri­scher Künstler und Intel­lek­tu­eller gestoßen. Beide wandelten die persön­li­chen Kränkungen jener Zeit in Propa­gan­da­flos­keln und Kampf­parolen um, die in Italien und Deutsch­land nach dem I. Weltkrieg reißenden Absatz fanden. Vielleicht deshalb, weil es dort insge­samt mehr Parvenüs gab als in Großbri­tan­nien, Frank­reich und Usa, was mit der überhas­teten Industriali­sierung der beiden Länder im späten 19. Jahrhun­dert zusam­men­hängen mag. Zugleich hatte die von oben komman­dierte Husch-husch-Indus­tria­­li­sie­rung einen spezi­ellen Typus von Untertan hervor­ge­bracht, jenen Diede­rich Heßling, den Heinrich Mann 1914 in seinem Roman skizzierte: ein Untertan, der seinen eigenen Aufstieg in eine Herrschafts­position innig mit einem speichel­le­cke­ri­schen Gehorsam gegen­über Autori­täts­fi­guren verband. In Großbri­tan­nien, Frank­reich und Usa fehlte diese Schicht vielleicht auch deshalb, weil der Kolo­nialismus dort anders struk­tu­rierte Karrieren möglich machte.

Die antise­mi­ti­sche Figur des Verrä­ters übernahmen der preußi­sche Histo­riker Heinrich v. Treit­schke, der Wiener christ­lich-soziale Bürger­meister Karl Lueger und Adolf Hitler ziemlich direkt aus der Wurzel des katho­li­schen Antise­mi­tismus und übertrugen den angeb­li­chen Verrat am Menschen­sohn auf einen herbei­phan­ta­sierten Verrat an der Nation. Im Chris­tentum war der „jüdische Verräter“ in der Figur des Judas seit Jahrhun­derten präsent und diente dort vor allem dazu, innere Wider­sprüche der christ­li­chen Lehre zu überde­cken. Wenn Jesus selbst seine Kreuzi­gung angestrebt und Judas als Werkzeug gebraucht hat, um sie in die Wege zu leiten, warum gilt Judas dann als der Schul­dige? Siehe dazu meine Betrach­tung »Jesus und Judas – Wer hat wen verraten?« Treit­schke forderte 187980 im Berliner Antise­mi­tis­mus­streit von den deutschen Juden die völlige Aufgabe ihrer jüdischen Kultur und Religion. Das Judentum an sich sah er als Gefahr für die natio­nale Einigung Deutsch­lands an, weil Juden dazu neigten, überna­tio­nale Zusam­men­hänge zu bilden. Lueger (Wiener Bürger­meister 1897–1910) drohte den Juden, die er als „Raubtiere in Menschen­ge­stalt“ verleum­dete: „Wir in Wien sind Antise­miten, aber zu Mord und Totschlag sind wir gewiss nicht geschaffen. Wenn aber die Juden unser Vater­land bedrohen sollten, dann werden auch wir keine Gnade kennen.“ Er proji­zierte also die eigene Mordlust prophy­lak­tisch auf die ins Auge gefassten Opfer. Beide hetzten gegen die Juden als poten­zi­elle Verräter am Aufbau einer deutschen Nation bzw. „des Vater­landes“. Die Rolle des Verrä­ters war offenbar nötig, weil die deutsche Nation bzw. das Wiener Vater­land als prekär und bedroht empfunden wurden. Es mangelte den deutschen Natio­na­listen an dem soliden Koloni­al­macht-Selbst­ver­trauen eines »Britannia rule the waves«.

Das Problem verschärfte sich drastisch 1918, nach dem verlo­renen I. Weltkrieg. Mit der Oktober­re­vo­lu­tion und der deutschen Novem­ber­re­vo­lu­tion war plötz­lich eine Perspek­tive jenseits des Kapita­lismus und des Imperia­lismus in der Welt. Der italie­ni­sche Faschismus entstand als Feuer­lösch­ma­növer der italie­ni­schen Indus­tri­ellen und Großgrund­be­sitzer gegen den drohenden Brand einer Enteig­nung der Kriegs­pro­fi­teure. Auch in Deutsch­land standen solche Konse­quenzen auf der Tages­ord­nung der Geschichte. In Deutsch­land noch dringender als in Italien, denn die deutsche Kriegs­in­dus­trie hatte gerade im engen Bündnis mit dem deutschen Milita­rismus in ihrem Größen­wahn den schlimmsten Krieg der bishe­rigen Geschichte zuerst systema­tisch angezet­telt und dann auch noch verloren. Diese Herren hatten 20 Millionen Menschen­leben auf dem Gewissen. Nichts berech­tigte sie dazu, ihre Macht­po­si­tionen zu behalten. Doch sie schafften es mit Hilfe der von Erich Luden­dorff erfun­denen Dolch­stoß­le­gende. Ein Verräter musste an dem Elend schuld gewesen sein. Luden­dorff nannte schnell zwei Namen: Der deutsche Sozia­list Oskar Cohn sollte es gewesen sein und der sowjet­rus­si­sche Agent Karl Radek, beides Juden; sie hatten persön­lich der „militä­risch ungeschla­genen“ und eigent­lich siegrei­chen deutschen Armee den Dolch in den Rücken gestoßen. Das schrie nach Rache. Der deutsche Faschismus begann als Rachet­raum, die Vernich­tung der als Volk verstan­denen Juden sofort im Blick.

Diese Betrach­tung möge nicht zuletzt ein Versuch sein, in der scharfen Kontro­verse zwischen der antiko­lo­nia­lis­ti­schen und der anti-antise­mi­ti­schen Szene zu vermit­teln. Wenn ich hier z. B. sage, dass die Naziver­bre­cher von den briti­schen und franzö­si­schen Koloni­al­truppen gelernt haben, wie man ganze Völker versklavt, dann setze ich nicht zwei unter­schied­liche Verbre­chen einander gleich. Die Naziver­brecher haben jede Gelegen­heit genutzt, die Vorlage zu eskalieren. Und für die Ermor­dung der Juden gibt es in der briti­schen und franzö­si­schen Koloni­al­ge­schichte keine Entspre­chung, auch nicht in der Motiva­tion. Wenn wir z. B. die Depor­ta­tion der ungari­schen Juden nach Ausch­witz 1944 mit dem »Trail of Tears« von 1839 verglei­chen, der Depor­ta­tion Tausender indigener Nordame­ri­kaner aus den Appala­chen nach Oklahoma, dann stoßen wir auf gravie­rende Unter­schiede: 1) Das Ziel der von US-Präsi­dent Andrew Jackson befoh­lenen Depor­ta­tion von 1839 war nicht die Tötung der Betrof­fenen, und tatsäch­lich hat die Mehrzahl der Depor­tierten das Verbre­chen überlebt. Von den ungari­schen Juden hat fast niemand überlebt. 2) Die Juden wurden aus der Stadt­be­völ­ke­rung von Budapest, Debrecen und anderen europäi­schen Städten gezielt und akribisch heraus­ge­kämmt. Sie hatten zuvor eng mit ihren ungari­schen Nachbarn zusam­men­ge­lebt. Es war ein Krieg gegen einge­bil­dete „innere Feinde“. Die Depor­ta­tion der Indigenen richtete sich gegen komplette dörfliche Gemein­schaften, die vorher wenig Kontakte zu den weißen Siedlern gehabt hatten. Es war ein rassis­ti­scher Krieg gegen Fremde, die ein Land besaßen, das sich die weißen Räuber aneignen wollten.


[1]     Epilog seines Buches »Die Deutschen in ihrem Jahrhun­dert: 1890–1990«, Reinbek 19901994, S. 355–366; S. 357

[2]     Urmensch und Spätkultur (1956) vier Mal; Moral und Hyper­moral (1969) vier Mal; Der Mensch, seine Natur und seine Stellung in der Welt (1950) ein Mal

[3]     Ch. v. Krockow: Die Deutschen, S. 362

[4]     A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, S. 49

[5]     H. Plessner: Die Stufen des Organi­schen und der Mensch. Nach Ch. v. Krockow: Die Deutschen, S. 363

[6]     H. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, Frank­furt 1958, S. 240, 244. Nach Ch. v. Krockow: Die Deutschen, S. 358


Veröffentlicht von

Jens J. Korff

Historiker, Politologe, Texter, Rheinländer in Westfalen, Sänger, Radfahrer, Wanderer, Naturbursche, Baumfreund, Pazifist

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